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Lesetipps
Lesetipps unserer Lektor*innen, abseits von Mainstream und Bestsellerliste.
Martina Hefter: Hey Guten Morgen, wie geht es Dir?
Juno, Künstlerin in ihren 50-ern, pflegt ihren erkrankten Mann Jupiter zuhause. Das und ihre beruflichen Aktivitäten, z.B. ihr Tanztraining, füllen sie tagsüber aus. Nachts, wenn sie nicht schlafen kann und die Gedanken über die Zukunft oder das immer fehlende Geld kommen, gönnt sie sich Chats mit fremden Männern. Dass diese zum Teil Love-Scammer sind, stört sie nicht, im Gegenteil: es spornt sie an, diese Männer ihrerseits über ihr Leben zu belügen und das Chatten damit ad absurdum zu führen. Doch mit Benu, einem jungen Mann aus Nigeria, verhält es sich anders: beide durchschauen sich gegenseitig und geben ihre Fassade schnell auf. Mit der Zeit wird ihr Austausch ehrlicher. Juno beschäftigt sich immer mehr mit Benus Leben in Nigeria, trotz der räumlichen Distanz kommen sich die Beiden immer näher.
Die frisch mit dem Deutschen Buchpreis für diesen Titel gekürte Leipziger Autorin, Martina Hefter, kann sich sicher sehr gut in die Hauptfigur Juno hineinversetzen, ist auch sie eine Performerin, Tänzerin und Literatin mit einem erkrankten Partner. Interessant und im besten Sinne unterhaltsam in der literarischen Gestaltung ist der Titel vordergründig ein Buch über eine Frau, die nach kleinen Fluchten aus dem anstrengenden, zum Teil frustrierenden Alltag sucht. Hintergründig ist dies ein Buch übers Älterwerden, dem Juno mit allen Mitteln versucht, zu entkommen. Zum Teil durch hartes körperliches Training, zum Teil durch jugendliche Attribute wie Tattoos und zum Teil durch ihren schriftlichen Austausch mit Benu. Und doch bleibt sie als pflegende Person in dem Dilemma, ihre Bezugsperson Jupiter nicht im Stich lassen zu wollen und trotzdem zu merken, dass diese geliebte Person zu einer Belastung wird, und sich ihr Leben mittlerweile oft woanders abspielt. Das wird ganz deutlich dadurch, dass Jupiter für seine wichtige Rolle sehr im Hintergrund bleibt und versucht, Juno so wenig wie möglich zu beanspruchen.
Hefters Bezüge zur Mythologie und zur Astronomie sind passend gewählt und harmonieren wunderbar mit der Handlung. Und durch die Handlungsebene mit dem Love-Scammer ist sie sehr am Puls der Zeit, ohne sich anzubiedern.
Das Buch der Stunde von einer, die zumindest ähnliche Erfahrungen wie Juno gemacht haben könnte. Eigen, süffig, empfohlen.
Rumena Bužarovska: Mein Mann
Hier kommt ein Paukenschlag der feministischen Literatur, von einem Shootingstar der osteuropäischen Autorinnen. Die aus Skopje stammende Rumena Bužarovska seziert in 11 Geschichten die Beziehung zwischen Frauen und ihren Männern aufs Feinste. Aus dem Blickwinkel der Frauen erzählt demonstriert sie meisterhaft, wie solche Beziehungen hinter dem schönen Schein aussehen und warum sie so oft nicht funktionieren. Und dass in der Realität die Gleichberechtigung der Frauen immer noch zu warten hat, wenn es gerade nicht so gut passt.
Da ist zum Beispiel der Gynökologe, der sich zu Höherem berufen fühlt und sich gerne auf Abendessen vor Freunden und Bekannten als Künstler geriert. Natürlich darf seine Frau die Abendessen ausrichten und auch ansonsten als Steigbügelhalterin für sein Leben fungieren. Schlecht wird es nur, wenn die Bewunderung der Frau für den Mann mit der Zeit nachlässt. Dann kann man ihre eigenen Wünsche und Arbeiten auch mal kleinmachen und sie damit demütigen. In vielen der Geschichten gibt Kunst oder Literatur das Vehikel ab, anhand derer sich Bužarovska mit der Rollenverteilung von Mann und Frau in Familien auseinandersetzt. Dabei sind auch die Frauen keine Heiligen bei ihr, so lassen sie ihren Frust häufig an ihren Männern oder Kindern aus, zum Teil mit katastrophalen Folgen. Niemand kommt hier ungeschoren davon.
Bužarovskas Stil ist kühl und erbarmungslos, jedoch nicht ohne Verständnis für ihre Protagonisten. Die Übersetzung von Benjamin Langer dient den Geschichten hervorragend. Nichts für empfindliche Gemüter, auch nichts zum mal eben weglesen. Die Geschichten beeindrucken noch lange nach der Lektüre.
Stella Gibbons: Teatime mit Kuh
„Die Erziehung, die Flora Postes Eltern ihrer Tochter hatten zuteilwerden lassen, war teuer, sportlich und hinreichend lang gewesen; …“
Mit diesem symptomatischen Satz beginnt der im Original 1932 erschienene Roman der Britin Stella Gibbons, den der Schweizer Oktopus-Verlag in einer neuen, zeitgemäßen Übersetzung 2023 erneut in deutscher Sprache auflegte.
Auch in diesem Roman geht es – wie im zuvor veröffentlichten „Sommernachtsball“ – um eine junge Frau, die plötzlich alleine ohne nennenswerte finanzielle Mittel versuchen muss, ihren Lebensunterhalt abzusichern. Dies kann ihrer Ansicht nach nur bei Verwandten gelingen. Und siehe da, es gibt tatsächlich eine Zusage auf Floras briefliche Anfragen. So geht es für Flora von der Großstadt aufs Land, genauer auf die Cold Comfort Farm (nomen est omen) der Familie Starkadder nach Sussex. Die Starkadders sind, um es vorsichtig auszudrücken, verschroben, zerstritten und an ihre Familiengeschichte gekettet, der Hof verlottert. Weit und breit gibt es keine Möglichkeiten der gesellschaftlichen Zerstreuung. Und so stürzt sich die unerschrockene Flora in das Vorhaben, ihrer Anwesenheit etwas Positives abzuringen, den Starkadders einen Schubs zur Weiterentwicklung zu geben und damit auch die Farm nach vorne zu bringen. Besonders im mittleren Teil des Buches gibt es urkomische Dialoge und Situationen, man fühlt sich häufig wie in einem Monty-Python-Film. Eben typisch britisch.
Dieser Roman deckt mit Leichtigkeit die Ansprüche und das Selbstverständnis der damaligen Upper Class auf und setzt diesen die Gegebenheiten der Arbeiterklasse entgegen. Ganz nebenbei jubelt Gibbons den Lesenden durch ihre tatenreiche, findige und feministische Hauptperson ungewöhnliche, erfolgreiche Lösungen gegen Standesdünkel und Eingefahrenes unter.
Die geschilderten Charaktere sind originell, lebendig und skurril und geben diesem märchenhaften Gesellschaftsroman eine besondere Note. Trotz seiner Verhaftung in der damaligen Zeit ein moderner Roman und ein absolutes Lesevergnügen.
Jordan Tannahill: Das Summen
Claire, mittelalt, Lehrerin, lebt mit Mann und Tochter in einem amerikanischen Vorort ein typisches, zufriedenes Leben. Eines Nachts jedoch hört sie ein leises Brummen, das sie fortan begleitet. Zuerst versucht sie auf eigene Faust herauszubekommen, woher das Geräusch kommt, Doch bald erfährt sie, dass auch Andere das Summen hören, unter anderem ihr Schüler Kyle. Mit diesem begibt sie sich - trotz schlechten Gewissens darüber, dass sie die Freizeit miteinander verbringen - auf eine systematische Suche nach der Quelle des Geräusches. Das bleibt natürlich nicht lange verborgen und ruft Kyles Mutter auf den Plan. Es folgt eine Abwärtsspirale in Claires Leben, begleitet durch ihre zunehmende Isolation, die sie nur durch die Treffen mit anderen Betroffenen mildern kann. Doch diese Treffen gelangen an die Öffentlichkeit …
Der in London lebende kanadische Autor Jordan Tannahill, der als Dramatiker bereits mehrere Literaturpreise gewonnen hat, legt hier einen rundum gelungenen Roman vor. Aus der Ich-Perspektive geschrieben ist man praktisch mittendrin in der Handlung. Obwohl bereits am Anfang klar ist, dass die ganze Sache dramatisch endet, hoffen Lesende doch bis zum Schluss, dass sich das Blatt wendet. Ein außergewöhnliches Buch mit einem außergewöhnlichen Thema. Das wird gekonnt und spannend umgesetzt. Und ganz nebenbei demonstriert Tannahill die schnelle Vorverurteilung durch die Gesellschaft, nicht zuletzt wegen der medialen, sensationslüsternen Berichterstattung. Wo fängt Wahn an, wo ist es Glaube, was ist nachvollziehbar, was geht überhaupt nicht? Ein guter Anlass, sich selbst zu hinterfragen, auf welche Seite man sich im realen Fall geschlagen hätte.
Jane Campbell: Kleine Kratzer
Hier kommt er der Abschied vom gütigen, leisen, sich nicht beklagenden Alter. Die 80-jährige Psychoanalytikerin Jane Campbell legt mit „Kleine Kratze“ ihr literarisches Debut vor, in dieser Form einzigartig. In 13 Kurzgeschichten lässt sie die Lesenden in das Leben alter Frauen eintauchen. Und diese Frauen sind bedürftig, gehässig, gewitzt, verliebt, manipulativ, realistisch und voller unerfüllter Sehnsüchte, alles Eigenschaften, die sich auch im hohen Alter nicht verlieren.
Die erste Geschichte handelt von einer Frau, die ihrer unbedarften, von ihrem untreuen Mann kontrollierten Nachbarin einen Gefallen tut, der es in sich hat. Dann gibt es da die Frau, die auf einer Konferenz auftaucht, um ihren ehemaligen Liebhaber wiederzutreffen. Oder die ältere Dame, die nach dem Tod ihres geliebten Hundes den neuen Roboter, der ihr im Altendomizil Gesellschaft leisten soll, für eine aufsehenerregende Aktion benutzt.
Alle Geschichten sind überzeugend und in ihrer Gesellschaftskritik absolut aktuell, z.B. bzgl. KI oder der Entwicklungen der Pflege alter Menschen. Aber auch die schon immer geltenden Regeln bzgl. des Platzes älterer Menschen in der westlichen Gesellschaft seziert Campbell genüsslich. Sie nennt das Alter eine Phase der Enteignung, gegen die sich alle ihre Charaktere wehren. Sie alle wollen selbstbestimmt leben und sterben, und sich nicht nur als Klotz am Bein der Familie oder der Gesellschaft verstehen. Campbell schreibt mit Wow-Effekt, literarisch souverän und wie Christine Westermann sagt: „Irre schön.“ Lesen!
Therese Anne Fowler: Gute Nachbarn
Oak Knoll, ein typischer Vorort in North Carolina. Das harmonische nachbarschaftliche Verhältnis der Einwohner liegt unter anderem an Valerie Alston-Holt. Diese lebt hier nach dem Tod ihres Mannes alleinerziehend mit ihrem Sohn Xavier und ist ein Aktivposten nachbarschaftlichen Engagements. Dass Valerie schwarz ist und ihr Mann weiß war, wurde zwar von der Gemeinschaft registriert, spielte aber nie eine Rolle. Dies ändert sich, als Valerie ihren neuen Nachbarn verklagt, den beliebten, reichen Unternehmer Brad Whitman. Brad hat mit dem Bau seiner Protzvilla auf dem Nachbargrundstück die Wurzeln einer großen alten Eiche auf Valeries Grundstück irreparabel beschädigt, das möchte Valerie nicht unbemerkt zulassen. Die unangenehme Situation wird zur Tragödie, als Brad zufällig mitbekommt, dass seine Tochter Juniper und Xavier sich verliebt haben und sich heimlich treffen ...
Anhand des Mikrokosmos Oak Knoll seziert die Autorin Therese Anne Fowler die amerikanische Gesellschaft in Hinblick auf einen immer noch herrschenden Rassismus. Dass dieser oft gut verborgen daherkommt und in Krisensituationen auch bei besonnenen Personen aufflackert bzw. politische Vorteile bringt, ist die besondere Erkenntnis dieses Romans. Gleichzeitig beleuchtet Fowler auch die Übergriffigkeit oder das Fehlen adäquaten elterlichen Verhaltens anhand der Whitmans. Weitere Themen sind Sexismus, Gentrifizierung, Umweltschutz im Alltag. Trotzdem ist der Roman nicht überfrachtet, manchmal etwas plakativ, jedoch immer stimmig.
Die Autorin präsentiert mit dem Chor der Nachbarn einen originellen Erzähler, der kritisch kommentierend den Fortlauf der Handlung begleitet und Spannung aufbaut, ohne die moralische Keule zu schwingen. Positiv hervorzuheben ist auch, dass sich keine sensationelle Lösung oder eine Umkehrung der unverschuldeten Situation für Xavier ergibt. Vielmehr präsentiert Fowler ein realistisches, wiewohl zugespitztes Ende.
Lohnend für alle die es mögen, sich von einer guten, unterhaltsamen Geschichte animieren zu lassen, die eigenen Überzeugungen und Handlungen zu hinterfragen.
Konrad Boguslaw Bach: Der Wisent
Heniek, ein polnischer Automechaniker in mittleren Jahren, ist zutiefst deprimiert. Nach sechsunddreißig Ehejahren verlässt ihn seine Frau Beatka. Sie hat beschlossen, in Holland zu bleiben, wo sie sich als Saisonarbeiterin in Hotels ihren Lebensunterhalt verdient. Andrzej, Henieks bester Freund, will das so nicht hinnehmen und überredet Heniek dazu, mit ihm in einem gekaperten Auto nach Domburg zu fahren um Beatka wieder nachhause zu holen.
So starten sie spontan in Richtung Deutschland, kurz nach der Grenze jedoch verlässt sie das Glück. Nach einem Wildunfall ist der Wagen kaputt und sie müssen sich zu Fuß und ohne Sprachkenntnisse durch das fremde Land schlagen. Was ihnen während dieser abenteuerlichen Reise alles widerfährt, lässt an Absurdität kaum zu wünschen übrig. So sprengen sie u.a. die Waldhütte von Neonazis, übernachten vor einer Kirche oder landen in überteuerten Hipster-Cafés.
Der polnisch-deutsche Autor, geboren 1984, und nach eigenen Angaben froh, in der deutschen und polnischen Kultur groß geworden zu sein, legt mit diesem Debutoman einen wilden Ritt durch die letzten Jahrzehnte vor. Dabei nimmt er genüsslich sowohl polnische als auch deutsche Mentalitäten aufs Korn und wirbt gerade durch diese Zuspitzung für eine grenzenlose, demokratische EU.
Verpackt in eine nicht ganz klischeefreie, manchmal derb überzogene Handlung entwickelt diese Roadnovel trotzdem einen Sog. Zeitsprünge liefern das nötige Hintergrundwissen um die Entwicklung der beiden Protagonisten besser zu verstehen. Ein schwarzhumoriges Vergnügen, nichts für Feingeister, aber sehr unterhaltsam.
Thomas Hürlimann: Der rote Diamant
Thomas Hürlimann präsentiert mit diesem Titel eine Wucht von einem Buch mit einer außergewöhnlichen Thematik.
Arthi wird von seinen Eltern verdonnert, seine Gymnasialzeit im Klosterinternat Maria zum Schnee in den Alpen zu absolvieren. Schon bei der Ankunft schwant ihm nichts Gutes. Das Kloster in Person des Klostervorstehers, Bruder Frieder, zwingt die pubertierenden Jungen dazu, sich sämtliche Individualität abzugewöhnen. Das Mittelmaß ist das Maß aller Dinge. Der eintönige Alltag ändert sich schlagartig, als Arthi und ein paar Mitschüler die Sage vom Roten Diamanten hören, der angeblich im Kloster versteckt ist. Die Jungs machen sich die Suche nach dem Diamanten zur Aufgabe. Dies ist umso schwieriger, als alle Aktivitäten, die nicht der Norm entsprechen, von Bruder Frieder unterbunden werden. Doch Einfallsreichtum und eine gehörige Portion Wagemut bringen die Jungs auf eine Lösung, die ihnen für die Suche freie Hand gibt. Schritt für Schritt kommen sie dem Geheimnis auf die Spur. Gleichzeitig bringen die ausgehenden 1960-er Jahre eine Änderung der Gesellschaft mit. Kann das Kloster mit seinen eisernen Grundsätzen diese schweren Fahrwasser überstehen? Das letzte Kapitel widmet sich dem mittlerweile über 60-jährigen Arthi, der ein letztes Mal die Abtei besucht, und die Geschichte abschließt.
Der aus der Schweiz stammende Autor, der in den 1960-er Jahren selbst ein Kloster in Einsiedeln besuchte, kann für dieses Buch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen. Das Klosterleben schildert er sehr anschaulich und authentisch, wenn auch drastisch. Überhaupt kennzeichnen den Roman eine barocke Fabulierlust und ein Sprachwitz, die ihresgleichen suchen. Skurrile Personen wechseln sich ab mit aberwitzigen Situationen. Hürlimanns überbordende Fantasie und das metaphorische Dauerfeuer fordern den aufmerksamen Leser, machen aber auch unglaublichen Spaß. So mäandert der Roman zwischen Abenteuerroman, Kriminalgeschichte, und philosophischen Betrachtungen hin und her, ohne beliebig zu werden. Zum Teil tragisch, zum Teil lustig, folgt man dem jungen Arthi atemlos auf seiner Suche nach dem Roten Diamanten und dessen Geschichte. Dieser Roman hat ein bisschen von „Der Name der Rose“, „Sherlock Holmes“ und der „Schatzinsel“. Allen Fans von originellen Handlungen und gekonnter Erzählkunst unbedingt empfohlen.
Craig Russell: Der geheimnisvolle Mr. Hyde
Edward Hyde erzählt seinem kränkelnden Freund, dem Schriftsteller Robert Louis Stevenson aus seinem Leben: mit dieser Szene beginnt ein Roman, der als historischer Thriller daherkommt, jedoch eher die tragische Geschichte eines außergewöhnlichen Menschen beleuchtet.
Edward Hyde muss als Superintendent der schottischen Polizei in Edinburgh einen grausigen Mordfall aufklären. Das Opfer wurde nach einem keltischen Ritual erstochen, gehängt und ertränkt. Dies fällt Mr. Hyde umso schwerer, als er unter Epilepsie leidet und immer wieder Erinnerungslücken hat, die länger und häufiger werden. Um seinen Posten zu behalten gilt es, diesen Zustand vor der Welt zu verbergen. Dabei hilft ihm einer seiner wenigen Freunde, der Arzt Dr. Porteous. Dieser hat nicht nur freundschaftliches sondern auch wissenschaftliches Interesse an Hydes Ausflügen in die „Anderswelt“, die so bedrohlich in dessen Realität einsickert. Hyde sorgt sich, dass er in diesen Absenzen furchtbare Dinge tut. Und er hat das Gefühl, dass die verschriebenen Medikamente nicht helfen.
Zur gleichen Zeit schart ein Scharlatan eine Gruppe von Anhängern aus der feinen Gesellschaft um sich, die er mit Drogen in die sogenannte „Anderwelt“ einführt. Auch damit muss sich Edward Hyde bald befassen. Eine Hauptdarstellerin dieses literarischen Spannungsromans ist die Stadt Edinburgh des 19. Jahrhunderts, die mit ihrem düsteren Felsen und dem Schloss darauf sowie den winddurchtosten Gassen und der vorherrschenden menschlichen Kälte eine passende Kulisse für die mystische Geschichte bietet.
Der schottische Autor Craig Russell wurde mit seinen Thrillern rund um den Detektiv Fabel in Deutschland bekannt. Die Reihe erfuhr auch eine TV-Verfilmung mit Peter Lohmeyer in der Hauptrolle. Mit diesem Titel aus dem Jahr 2021 wandelt Russell auf anderen Pfaden, und das gelingt ihm eindrücklich und mitreißend. Er haucht dem bekannten Sujet von Mister Hyde durch eine originelle Sichtweise neues Leben ein. Literarisch sicher ist dies ein historischer Thriller jenseits herkömmlicher Spannungs-Dutzendware.
Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme
Hochaktueller Roman über das Dilemma osteuropäischer Familien, deren Mütter als Pflegekräfte in Westeuropa arbeiten.
Daniela verschwindet in einer Nacht und Nebel-Aktion und lässt ihre Kinder und den Mann mit einem kurzen Abschiedsbrief in einem kleinen Dorf in Rumänien zurück. Sie macht sich auf nach Italien, um dort als Pflegekraft für Kinder und Senioren dringend benötigtes Geld zu verdienen. Doch dies kostet die Familie einen hohen Preis. Daniela wie auch die Kinder vermissen sich gegenseitig schrecklich, auch die Telefonate und die großzügigen Geschenke können das tägliche Miteinander nicht ersetzen. Irgendwann schleicht sich Gewöhnung ein, und die einstmals stabilen Bindungen der Familienmitglieder werden immer fragiler. Sowohl Daniela als auch die Kinder fühlen sich permanent überfordert, da auch der Vater sich nur noch sporadisch meldet und ansonsten irgendwo in Osteuropa als Fernfahrer unterwegs ist. Nur noch die Großeltern können sich um die Kinder kümmern. Die ältere Tochter Angelica zieht in die nächste Stadt, um mit dem Geld der Mutter ein Studium zu beginnen, bleibt jedoch ständig in der Verantwortung für ihren jüngeren Bruder Manuel. Dieser rutscht in der Schule ab und fällt nach einem selbst verursachten Unfall ins Koma …
Aus der Perspektive einer Mutter und ihrer beiden Kinder geschrieben, setzt sich der italienische Autor mit der Thematik der Arbeitsmigration auseinander. Balzano tut dies, nachdem er, wie im Nachwort geschildert, in Rumänien Schulen für die zurückgelassenen Kinder, die sogenannten Eurowaisen, besucht hat. Er beschäftigt sich auch mit der „Italienkrankheit“, die für die pflegenden Frauen häufig in Burnout und Depression endet. Ein überzeugender Roman ohne Larmoyanz über einen Zustand, der in den reichen Ländern Westeuropas zur Aufrechterhaltung des eigenen Familienalltags in Kauf genommen wird. Regt zum Nachdenken an.
Stewart O’Nan: Ocean State
Der neue Roman des Meisters der amerikanischen Gegenwartsliteratur ist wieder ein großer Wurf, obwohl die Geschichte sehr abgeklärt und unaufgeregt daherkommt.
Die beiden Teenager Angel und Birdy, die aus der Arbeiterstadt Westerly kommen und eher am unteren Ende der Gesellschaft rangieren, haben sich in denselben jungen Mann verliebt. Angel, Myles hübsche Freundin, ist bereits besorgt, dass er sie nach dem letzten Highschool-Jahr abserviert und woanders zum Studium geht. Wegen der Diskrepanz ihrer beiden Leben immer auf der Hut kann sie nicht wirklich entspannt und glücklich sein. Birdy, die Nebenbuhlerin, ist einfach nur total verliebt in Myles. Beide wissen zwar, dass ihre Beziehung unter keinem guten Stern steht, sind aber nicht bereit, diese aufzugeben. Als Angel eher beiläufig von Myles Betrug erfährt, setzt sie ihm die Pistole auf die Brust: die Beiden stellen Birdy eine Falle und ermorden sie.
Der Roman erzählt aus wechselnden Perspektiven die Vorgeschichte des Mordes, es kommen jedoch nur die Frauen zu Wort. Da sind Angel und Birdy, beide mit dem Traum, ihrem tristen Leben auf der unteren Stufe der Gesellschaft durch die Beziehung zu Myles – dem wohlhabenden Sunnyboy – entkommen zu können. Angel, die den Mord zwar kaltblütig plant, ihn allerdings im Nachhinein bedauert und die Gefängnisstrafe fast herbeisehnt, ist bereits sehr durch die Umstände geprägt. Und da ist Marie, Angels jüngere, gutmütige Schwester, die ihren Platz im Leben noch nicht gefunden hat, und die Eskapaden ihrer Schwester und der Mutter, die sich gerne mit den falschen Männern einlässt, eher hilflos beobachtet.
O’Nan schildert glaubhaft, unter welchem Druck und welcher Beobachtung junge Paare in amerikanischen Kleinstädten stehen, und dass die Klassengesellschaft immer noch ihre Grenzen zieht. Tragisch ist, dass alle mehr oder weniger nur auf die Umstände reagieren und auch die Familien keinen großen Halt bieten können. Alle Personen sind authentisch und auch nicht unsympathisch. Kein Krimi, sondern eine äußerst überzeugende Gesellschaftsstudie ohne Effekthascherei.
Timon Karl Kaleyta: Die Geschichte eines einfachen Mannes
Der Ich-Erzähler, aufgewachsen in den 80-er Jahren im Ruhrgebiet, kommt im Ernst des Lebens an. Nach einer - wie er betont – sehr glücklichen Kindheit fühlt er sich nach seinem Abitur zu Höherem berufen, doch was könnte das nur sein? So liegt er folgerichtig erst einmal seinen Eltern auf der Tasche und genießt sein Leben. Von einem Tag auf den anderen hängt ihm das Nichtstun jedoch zum Hals heraus. Er erkennt die Notwendigkeit, das Schicksal in die Hand zu nehmen um etwas aus sich zu machen. Die Ernüchterung an der Universität folgt auf dem Fuße, bleibt ihm doch mit seinem nur guten Abitur das spontan heiß ersehnte Medizinstudium verwehrt. So nimmt er aus Mangel an Alternativen ein Studium der Geisteswissenschaften auf und macht – auch aufgrund seiner Qualitäten als Streber und Schleimer – einen sehr guten Abschluss. Enttäuscht stellt er jedoch fest, dass er damit nicht alleine ist, sondern ungefähr die Hälfte des Studiengangs das geschafft hat. Was kann er denn jetzt tun, um der Tretmühle des wenig aufregenden Arbeitslebens zu entfliehen? Genau, ein Stipendium ergattern und ins Ausland gehen, um es sich dort gutgehen zu lassen. Aber auch da klingelt die Realität bald an die Tür und erzwingt ein Ende des so lauschig eingerichteten Alltags. Was hilft nun, ein Abstecher in die Musik? Erstaunlicherweise finden sich immer wieder Menschen, die ihn unterstützen, auch wenn er mit ihnen nicht gerade zimperlich umgeht und sie für seine eigenen Ziele fallen lässt, wenn andere oder anderes ihm aussichtsreicher erscheinen. „Ein Mann will nach oben“ könnte der Roman auch heißen, wäre dieser Titel nicht schon vergeben.
Der Debutroman des Musikers Kaleyta (1980 in Bochum geboren) ist autobiografisch geprägt. Er war ein Überraschungshit des letzten Jahres und wurde von der Kritik zurecht sehr positiv aufgenommen. In einer altmodisch anmutenden aber überaus passenden Sprache schildert Kaleyta unaufgeregt den Zickzackkurs des hübschen Einzelkindes mit den überaus weichen Händen. Der Leser folgt diesem durchs Leben trudelnden Wendehals staunend. Dass der Protagonist alles andere als liebenswürdig daherkommt, und die Sympathien seiner Familie, Freunde und des restlichen Umfelds immer wieder zugunsten seines eigenen Vorteils strapaziert, macht die Geschichte umso interessanter. So wartet man schon gebannt auf die nächste für ihn trostlose Situation, in die er sich bringt, und wer diesmal dafür bezahlen muss, dass er sich daraus befreien kann. Ob das auf Dauer gut geht, soll hier nicht verraten werden. Nur so viel: selten macht es so viel Spaß, einem ausgemachten Egozentriker beim selbst verschuldeten Scheitern zuzusehen.
Carole Fives: Kleine Fluchten
Protagonistin dieses Romans der französischen Autorin, die mit „Eine Frau am Telefon“ in Deutschland bekannt wurde, ist eine alleinerziehende Mutter. Sie wohnt in einer Stadt, in der sie kein soziales Netz hat, in der Hoffnung, dass sich der entschwundene Vater ihres Sohnes mal wieder bei ihnen sehen lässt. Freiberuflich tätig kommt sie immer mehr in das Dilemma, keine Zeit für die Arbeit zu haben, da sie sich rund um die Uhr um den Kleinen kümmern muss. Als der Sohn in einen leider weit entfernten Kindergarten kommt, erfährt sie dadurch kaum Entlastung, da sie zwischen Kindergarten und Wohnung hin und her hetzen muss. Das Jugendamt setzt sie unter Druck, sich doch bitte ordentlich um das Kind zu kümmern, andere schafften das ja auch.
Zunehmend sehnt sie sich nach Zeiten, in denen sie ihren Interessen nachgehen kann, die tägliche Routine mit dem Kind zermürbt sie. Die Mutter sucht Verständnis und Unterstützung in Foren anderer Alleinerziehender, doch dort begegnen ihr vornehmlich Verurteilung, Unverständnis und Häme. Lichtblicke sind die kleinen Auszeiten, die sie sich nimmt, wenn der Junge schläft. Sie verlässt die Wohnung und streift für kurze Zeit durch die Umgebung, glücklich, andere Erwachsene in ihren Erwachsenenleben zu beobachten. Doch kann das gutgehen, dass sie ihr Kind alleine lässt?
Dieses Thema wurde bisher in der Belletristik wenig behandelt. Carole Fives setzt es gut um, und gibt einen sehr realistischen, ungeschönten Einblick in die Lebenswirklichkeit vieler Alleinerziehender, verknüpft mit einem Seitenhieb auf die gar nicht so sozialen Medien. Der Titel regt zum Nachdenken und Verständnis für Menschen in dieser Situation an.
Angelika Waldis: Lauter nette Menschen
Willkommen bei den Drehers. Heiner und Inge, Mitte 40, gutsituiert, haben 2 Söhne im Teenageralter. Der ältere Sohn Nick läuft in geraden Bahnen, die größte Herausforderung für ihn zurzeit ist die Entdeckung des weiblichen Geschlechts. Josch, der jüngere, ist der Spaßvogel der Familie, hat allerdings in der Schule ziemliche Probleme und geht gerne mal auf Klautour. Die Vier haben sich im Familienleben eingerichtet, die Routine bestimmt den Alltag. Langsam schleicht sich bei Inge die Langeweile ein, sie fühlt sich nicht mehr angemessen wahrgenommen und geliebt. Daher stürzt sie sich enthusiastisch in die Aufgabe, einem albanischen Flüchtling in ihren Kellerräumen eine Wohnung einzurichten. Tarek zieht ein, von den Männern des Hauses eher ungewollt, und Inge entwickelt eine Verliebtheit in Tarek, die sie bald nicht mehr ignorieren kann. Heiner indes kämpft bei der Arbeit mit einer unsympathischen Sekretärin und greift zu unlauteren Mitteln, um diese loszuwerden. Die Jungs machen ihr eigenes Ding, mehr und mehr zerfasert das Familienleben. Und plötzlich liegt ein ohnmächtiger Unbekannter in ihrer Garage. Kann die Familie sein Geheimnis lüften? Und schweißt das die Familienmitglieder wieder zusammen?
Angelika Waldis, deren Romanvorgänger „Ich komme mit“ zum Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels gekürt wurde, ist eher eine Spätzünderin, was das Schreiben betrifft. Mit 65 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman.
Dieses Buch nimmt die Leserschaft mit in eine ganz normale Familie. Aus wechselnden Perspektiven der Familienmitglieder geschildert breitet sich eine Handlung aus, die so oder ähnlich in vielen Familien vorkommen könnte. Dass dies nicht langweilig oder überflüssig daherkommt, liegt an dem charmanten Schreibstil der Autorin und der Tatsache, dass alle Protagonisten sowohl sympathische als auch unsympathische Züge haben. Und so landet man schnell mittendrin im Leben der Drehers und fiebert bis zum Ende mit, ob sich die Familie wieder zusammenrauft oder auseinanderbricht. Sehr empfohlen für alle, die Vergnügen am ganz normalen Wahnsinn unter „lauter netten Menschen“ haben.
Angelika Waldis: Lauter nette Menschen
erschienen 2021 in München im Verlag Wunderraum
Mary Lawson: Im letzten Licht des Herbstes
1972 in einem kleinen Städtchen in Nord-Ontario: Die siebenjährige Clara ist in höchster Not. Ihre ältere Schwester Rose ist nach einem Streit mit der Mutter weggelaufen und nicht wieder aufzufinden. Ihre befreundete Nachbarin, Mrs. Orchard, kommt zudem ins Krankenhaus, und dann nistet sich auch noch ein Fremder in Mrs. Orchards Haus ein. Clara ist völlig verzweifelt, ihre Eltern sind ihr in dieser Situation auch keine große Hilfe. Einzig die Versorgung von Mrs. Orchards Kater Moses und das Ausschau-Halten nach Rose vom Wohnzimmerfenster aus geben ihrem Leben Halt.
Als die Tage ins Land gehen, und es immer unwahrscheinlicher wird, dass Rose wohlbehalten wiederauftaucht, erweist sich eine Information von Roses Freund aus der Schule als letzter Hoffnungsschimmer. Doch wie kann Clara der Polizei diese Information weitergeben, ohne den Freund in Bedrängnis zu bringen? Kann ihr Liam, der Fremde aus dem Nachbarhaus, dabei helfen?
Unaufgeregt, wortkarg wie der Norden, aber umso beeindruckender schildert die kanadische Autorin Mary Lawson die Geschichte wechselnd aus der Perspektive von Clara, Mrs. Orchard und Liam. Hier passt alles, Inhalt und Form sind wunderbar ausgearbeitet. Auch der Nebenstrang der Handlung, die gemeinsame Vergangenheit von Mrs. Orchard und Liam, wird nach und nach gelüftet. In diesem Buch passiert wenig Außergewöhnliches, aber dies umso nachdrücklicher.
Ergreifend, wieder ein großartiger Roman von Mary Lawson, die hierzulande mit „Rückkehr nach Crow Lake“ bekannt wurde.
Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst
KD Pratz ist ein exzentrischer Künstler der alten Garde.
Als Nonkonformist hat er sich auf eine Burg am Rhein zurückgezogen, lebt und arbeitet dort unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Dies macht ihn für viele Kunstliebhaber umso attraktiver. Als das im Aufstreben begriffene Frankfurter Museum Wendevogel einen Neubau erhalten soll, kommt die Idee auf, dort exklusiv Werke von KD Pratz zu präsentieren.
Diese Aussicht schmeichelt auch dem Künstler, ist er doch – trotz aller Ablehnung der unvollkommenen Welt - auf seinen Nachruf bedacht. Daher lässt er sich voller Unbehagen darauf ein, den Förderverein des Museums bei sich in der Burg willkommen zu heißen. Es steht sogar eine Werkschau des bisher unveröffentlichten Oeuvres des Künstlers im Raum. Der Förderverein macht sich unter der Ägide des Museumsdirektors sowie der rührigen Vorsitzenden zu einem Wochenende mit KD Pratz auf den Weg. Was dann an Katastrophen, Überraschungen und ungeplanten Erfolgen für die Kunst und für das Seelenheil einiger Beteiligter folgt, ist eine höchst komische, nichtsdestotrotz stimmige und im besten Sinne unterhaltsame Darstellung des deutschen Kulturbetriebes mit seinen Höhen und Tiefen.
Kulturpolitiker, Bildungsbürger aber auch egomane Künstler werden sehr treffend in all ihren Facetten dargestellt. Die Erzählperspektive des eher distanziert beobachtenden Sohns der Fördervereinsvorsitzenden kommt der Geschichte sehr zugute.
Der neueste Roman Magnussons aus dem Jahr 2020 ist ein großer Wurf, lesen.
Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew
Dmitrij möchte Deutscher werden. Als Achtjähriger mit seiner Familie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen, beantragt er nun mit über dreißig die deutsche Staatsbürgerschaft. Dies gelingt ihm fast, allerdings fehlt noch eine letzte Bescheinigung aus der Ukraine, die er auch nur dort erhalten kann. Was sich nach einer reinen Formalie anhört, stellt sich als Gang durch die Instanzen und gleichzeitig als Reise in die Vergangenheit heraus. Die Ukraine glänzt durch Stillstand, das Entdanken (Bezahlen von Bestechungsgeldern) und schlecht entlohnte Arbeit bestimmen das Leben. Als Dmitrij endlich die fehlende Bescheinigung erhalten hat, stellt er bestürzt fest, dass sein kranker Vater ihm - von der Mutter geschickt – nachgereist ist, offiziell um seine Zähne machen zu lassen. Als dessen Verfassung sich vor Dmitrijs Augen rapide verschlechtert, bleibt ihm nichts anderes übrig, als seinen Vater - unter Druck gesetzt von der Mutter aus dem fernen Deutschland - auf der Suche nach Heilung durch das marode Kiewer Gesundheitssystem zu schleusen. Doch trotz anfänglichem Fremdsein fühlt sich Dmitrij nach und nach heimisch, die Ukraine ist für ihn wie ein alter, abgewetzter aber oft getragener Pullover. Trotzdem merkt er überall, dass er auch hier nicht mehr als Landsmann angesehen wird. Dieser Roman besticht nicht nur durch die Auseinandersetzung mit den Themen Migration und Zugehörigkeit, sondern lotet vor allem die Beziehung dieser immer weiter auseinanderdriftenden Familienmitglieder zueinander aus, und wie sie die neue Lebenssituation in Deutschland positiv wie negativ geprägt hat. Ohne Schwarzweißmalerei oder Sentimentalität setzt sich Kapitelman mit den guten und schlechten gesellschaftlichen Zuständen dieser beiden, höchst unterschiedlichen Länder auseinander, und dies durchaus unterhaltsam. Dabei wird die Zerrissenheit deutlich, die geflüchtete Menschen empfinden, und die auch den Zusammenhalt einer Familie beeinflussen kann. Wie Kapitelman am Ende des Buches fast schon lakonisch feststellt: „Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten“. Und doch sind diese so bestimmend für unser Leben und können Menschen komplett entwurzeln.
Der kurze Roman ist ein Highlight der letztjährigen literarischen Neuerscheinungen. Allein die Wortschöpfungen Kapitelmans (zum Beispiel „sowjetische Stillstandsziegel“) machen das Buch einzigartig.
Amity Gaige: Unter uns das Meer
Das amerikanische Mittelklasse-Ehepaar Juliet und Michael steckt in der Krise. Seine Arbeit erfüllt Michael nicht mehr, er sehnt sich zusehends nach einer Auszeit. Juliet steckt in ihrer Abschlussarbeit zur Literaturwissenschaftlerin fest und kann sich nicht zum Weitermachen motivieren. Sie hat nach der Geburt ihrer beiden Kinder Sybil und George Depressionen entwickelt. Wie sich herausstellt, nagt sie zudem an einem Kindheitstrauma.
In dieser Situation schlägt Michael einen einjährigen Segeltörn in der Karibik vor, um die Familie zu retten und die Ketten des Alltags hinter sich zu lassen. Die Kinder sind noch klein genug, und er denkt immer häufiger zurück an seine gemeinsamen Segeltouren mit seinem Vater auf dem Eriesee. Mit sanfter Geduld überzeugt er die zutiefst skeptische Juliet, die keinerlei Segelerfahrung hat.
Letztendlich stimmt sie zu, ein Boot wird gekauft und hergerichtet und dann geht es los in die traumhafte Karibik.
Die Kinder sind sehr anpassungsfähig und begeistert, Sybil mausert sich zu einer kleinen Seeratte, und die Familie beginnt aufzuatmen. Ein mehrwöchiger Aufenthalt auf einer Mini-Insel lässt die Familie zu sich selbst kommen. Doch die Unwettersaison naht und beim ersten Sturm wird Juliet klar, wie wenig sie als Seglerin geübt ist. Nach der Reparatur des Bootes wollen sie eine mehrtägige Überfahrt nach Jamaika wagen, um vor dem Mitinhaber der Segeljacht, der auf dem Weg zu ihnen ist, zu fliehen. Dieser möchte das Boot im Anschluss an den Törn verkaufen und macht vor allem Michael, der sich mittlerweile in eine finanziell vertrackte Situation gebracht hat, immer nervöser. Also begeben sie sich überhastet aufs Meer …
Dieser großartige Roman funktioniert auf mehreren Ebenen. Zum einen ist er ein Seglerbericht, ohne zu sehr auf die nautischen Details einzugehen. Zum anderen ist er ein Abenteuerroman. Und zum Dritten seziert er überzeugend die Keimzelle der amerikanischen Gesellschaft, die Familie, mit den Anforderungen und Rollen, in denen die Eltern feststecken. Dies wird gekonnt aus zwei Perspektiven geschildert. Juliet kommt zu Gehör in einem Gedankenstrom, in dem sie in den Zeiten vor- und zurückspringt, Michael äußert seine Sicht der Dinge im Logbuch. Sprachlich hervorragend und sehr einzig ist dieser Roman über eine schicksalhafte Reise auch Nichtseglern unbedingt empfohlen.
Steph Cha: Brandsätze
Ein Buch der Stunde, das einen ungeschönten Blick auf die Einwanderer-Communities der USA und den ihnen begegnenden alltäglichen Rassismus wirft.
Los Angeles, 1991: Jung-Ja Han, eine koreanische Ladenbesitzerin, erschießt die schwarze Jugendliche Ava, die bei ihr einkaufen wollte und mit der sie zuvor eine kleine Auseinandersetzung hatte. Durch ein sehr mildes Urteil kann die Koreanerin sich und ihrer Familie ein neues Leben mit neuer Identität aufbauen.
Avas Familie hadert lange mit diesem Umstand, die Tante macht es sich zur Lebensaufgabe, die Ungerechtigkeit und den Rassismus gegenüber schwarzen US-Amerikaner*innen anzuprangern und den Mord an Ava nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Los Angeles 2019: Kurz nachdem Avas Cousin Ray aus dem Gefängnis entlassen wird, wird Jung-Ja Han angeschossen und stirbt einige Zeit später. Ihre Tochter Grace, die während des Attentats bei ihr war, versucht, einen Grund für diese Tat zu finden. Die ihr vorenthaltene Wahrheit zieht ihr den Boden unter den Füßen weg und lässt sie an ihrem ganzen Leben zweifeln. Und ist es richtig, dass die Ermittlungen sich auf ein Mitglied aus Avas Familie konzentrieren? Gleichzeitig versucht Avas Bruder Shawn verzweifelt, seine Familie zusammenzuhalten und alle Gefahren aus dem Weg zu räumen
Abwechselnd aus Shawns und Graces Perspektive setzt sich Steph Cha mit der Frage nach Schuld, Sühne und Vergebung auseinander die das Leben von Familien über Generationen bestimmen kann. Dabei begeht sie nicht den Fehler, die dargestellten Personen zu idealisieren, sondern beschreibt realistisch auch die negativen Seiten der Zugehörigkeit zu bestimmten Ethnien (Gang-Mitgliedschaft, Abschottung zu anderen Ethnien). Die schicksalhaft miteinander verbundenen Familien haben die Chance, trotz aller Ressentiments in eine friedliche Zukunft zu gehen. Ob sie diese Chance nutzen, bleibt offen, es wird jedoch sehr deutlich, wie Ungerechtigkeit gesellschaftliche Brandsätze erschafft und wie kurz die Lunte ist, die diese entzündet. Großartig.
Max Küng: Fremde Freunde
Das Schweizer Ehepaar Jacqueline und Jean lädt zwei eher locker bekannte Paare mit ihren Kindern in ihr Ferienhaus in der Franche-Comté ein, einer relativ unbekannten Region Frankreichs, die an die Schweiz grenzt. Dort wollen sie die Gäste verwöhnen, ihnen buchstäblich ein „Leben wie Gott in Frankreich“ bieten. Was die Gäste nicht wissen: Jacqueline und Jean haben Geldsorgen, ihre Werbeagentur läuft nicht mehr so gut und das Ferienhaus produziert hohe Kosten. Der Plan: die eingeladenen Familien sollen sich durch die gemeinsam verlebten Ferien in das Haus verlieben und sich zukünftig daran beteiligen. Jedoch lassen kleine und größere Unannehmlichkeiten nicht lange auf sich warten, zudem geschehen Ereignisse, die die Gesellschaft zumindest verunsichern, wenn nicht gar ängstigen. Und die sehr unterschiedlichen Charaktere tragen auch nicht unbedingt zur angestrebten Harmonie bei. Ob sich Jacquelines und Jeans Plan verwirklichen lässt?
Max Küng, der schon 2016 mit “Wenn du das Haus verlässt, beginnt das Unglück” auf sich aufmerksam machte, versteht sein Metier. Sehr fein, mit einem großen Gespür für die Tragikomik der kleinen alltäglichen Vorkommnisse, beschreibt er diese Feriengesellschaft der Schweizer Mittelschicht. Kurze Kapitel mit einer signifikanten Überschrift (natürlich in Französisch, man ist ja frankophil), machen die Lektüre zu einem sehr kurzweiligen, niveauvollen Vergnügen. Jedoch gewährt Küng genauso überzeugend und gekonnt einen Blick hinter die Kulissen der Paare. Jenseits des schönen Scheins zeigt er auf, dass das Leben der vermeintlich Gutsituierten auch problembehaftet und unglücklich sein kann. Man darf auf den Nachfolger wieder sehr gespannt sein. Dem Verlagstext: „Eine abgründige und urkomische Geschichte über die schönste Zeit des Jahres: die Ferien!“ ist nichts hinzuzufügen.
Jessica Kasper Kramer: Die Geschichtensammlerin
Bukarest, 1989: Die 10-jährige Ileana, die ihren Namen nach der listigen Ileana, bekannt aus rumänischen Volksmärchen, erhalten hat, langweilt sich in den Ferien zuhause. Die Eltern sind bei der Arbeit, alles ist knapp, Strom, Wasser, Lebensmittel sind tunlichst nicht zu verbrauchen.
So beschäftigt sich Ileana mit den Geschichten in ihrem Kopf, die sie akribisch aufschreibt, umschreibt und sammelt, obwohl ihre Eltern sie schon häufig davor gewarnt haben. Alles ist verdächtig, Geschichten, die auch nur ansatzweise die politische Herrschaft oder den Conducatore (Ceausescu) kritisieren könnten, sind hochgefährlich. Und trotzdem kann Ileana nicht anders, die Geschichten sind ihr Tor zur Welt. Als eines Tages ein Elektriker in die Wohnung eindringt, der angeblich Leitungen neu verlegen soll, erzählt sie den Eltern nichts davon, denn sie hat ein schlechtes Gewissen. So ist sie überzeugt, dass er ihretwegen gekommen ist, weil sie den Ventilator benutzt hat, und um sie wegen ihrer Geschichten zu überwachen. Als jedoch die erste Wanze in der Wohnung gefunden wird, handeln die Eltern sofort und schicken Ileana aufs Land zu den Großeltern. Diese leben in einem kleinen Bergdorf in den Karpaten, Ileana hatte bis dahin keinen Kontakt zu ihnen.
Ileana hat Schwierigkeiten, sich an das harte Landleben zu gewöhnen, doch nach und nach lernt sie die Bewohner des Dorfes kennen und schätzen. Bald hat sie eine beste Freundin und trotz harter Arbeit freut sie sich über die ungewohnten Freiheiten des Lebens unter dem Radar. Doch dann beginnt auch hier die heile Welt zu bröckeln, denn unübersehbar haben sich Männer der Geheimpolizei Securitate im Dorf eingenistet, die alles auf den Kopf stellen und nach etwas oder jemandem suchen. Ist dies etwa Ileana, oder doch ihr verschwundener Schriftsteller-Onkel Andrei, der kurz vor ihrer Reise aufs Land in Bukarest abgetaucht ist?
Aus der Sicht einer sehr eigenständigen 10-Jährigen breitet die Autorin liebevoll eine außergewöhnliche Geschichte über die Kraft von Erzählungen, Märchen und Büchern aus, zeitgeschichtlich verwoben mit dem Zusammenbruch der Ceausescu-Diktatur in Rumänien. Einziger Wermutstropfen ist die für ein Kind manchmal recht altklug und heldenhaft agierende Hauptperson. Jessica Kramer bringt in ihrem Debutroman den Lesenden dieses zerrissene Land mit seinen Traditionen wie seinem Hang zum Erzählen und zu Geschichten nahe, ohne Land und Leute vorzuführen. Lohnend für alle, der Verlag legt das Buch Lesenden von „Die Bücherdiebin“ oder „Der Schatten des Windes“ besonders ans Herz.
Chris Rylander: Die Legende von Greg
Teil 1 der Trilogie: Der krass katastrophale Anfang der ganzen Sache
In der Hörbuchfassung gelesen von Marius Clarén
Mit diesem fantastisch-magischen Abenteuer liefert Chris Rylander eine tolle Geschichte, die Marius Clarén mit seiner Stimme wundervoll auf 4 CDs gebannt hat.
Die Zauberkräfte von Zwergen und Elfen treffen auf Freund- und Feindschaft, das sorgt für Spannung und weil die Figuren auch noch witzig sind, gibt es zwischendurch immer etwas zu lachen.
Die Geschichte beginnt mit Greg. Er ist ein ganz normaler Junge, der für sein Gewicht etwas zu klein geraten ist. Er besucht eine Schule in Chicago und wird dort von fiesen Schülern malträtiert. Allein Edwin, der sich immer gut zu wehren weiß und der echt cool ist, ist sein Freund.
Bei einem Schulausflug geschieht Mysteriöses und Edwin blickt das „Monster“, was einen unbändigen Groll auf Greg zu haben scheint, einfach mit seinen Augen nieder. Greg ist überzeugt, dass er ohne Edwin nicht überlebt hätte.
Gregs Vater scheint ein wenig schrullig. Er führt einen Laden mit Bio-Tee und solchem Kram und wuselt mal hier mal da herum. Es ist ein wenig nebulös. Aber Greg mag ihn doch sehr, jedoch immer auf ihn hören tut er natürlich auch nicht.
Nachdem sein Vater von einer Geschäftsreise nach Hause kommt, sichtlich guter Laune aber mit gebotenem Ernst seinem Sohn verbietet, den neuen Tee zu trinken, kommt was kommen muss. Greg trinkt und am nächsten Tag werden wir vollends in das Abenteuer um Greg, seinen Vater, seinen Freund und allen drumherum hineingezogen.
Sein Vater wird entführt wird und es ist sonnenklar, dass Greg ihn finden und befreien muss. Greg erfährt, dass er dem Zwergenvolk angehört und der Sohn des Ratsältesten ist. Die Geschehnisse brechen über ihn hinein. Er lernt den Tee als Zaubertrank kennen, der ihm Zuversicht und magische Kräfte verleiht.
Wir erfahren von dem Zwist zwischen Bergtollen, Elfen, Zwergen und Feen. Vor urlanger Zeit gab es einen unerbittlichen Kampf zwischen Zwergen und Elfen, die Feen versuchten zu vermitteln. Schlussendlich wurde das eigentliche Wesen der Magie tief unter der Erde vergraben, damit Ruhe einkehrt.
Aber was ist nun los? Wieso gerät alles aus dem Gleichgewicht?
Und dann muss Greg auch noch erfahren, dass sein bester Freund Edwin, auf den er sich immer verlassen konnte ein Elf ist. Die Elfen sind seit jeher die absoluten Feinde der Zwerge. Was für ein Drama!
Die Magie kehrt in die Welt zurück und alle bereiten sich wieder auf Kämpfe vor.
Greg befindet sich plötzlich mittendrin in dieser alten Fehde. In diesem Kampf stehen sich fast alle feindlich gegenüber, keiner traut dem anderen.
Wer wird zu wem halten oder wer wird wem helfen können?
Es ist einfach spannend und turbulent. Es gibt keine Hänger, man bekommt viel Magie, unerwartete Wendungen, Humor und köstlichen Wortwitz geboten.
Der nervenaufreibender Showdown macht die Sache komplett und trotzdem passiert natürlich so viel Unerwartetes, und die Geschichte schlägt eine überraschende Richtung ein, dass der Folgeband ebenfalls gehört werden muss.
Die Legende von Greg, bislang sind zwei Bände / Hörbücher erschienen, der Abschluss der Trilogie wird im Herbst 2021 erwartet.
Lesealter ab 12 Jahren
Edna O’Brien: Das Mädchen
Eine bemerkenswerte Anstrengung, der sich die bekannte irische Schriftstellerin Edna O’Brien für dieses Buch unterzog. Knapp 90-jährig nahm sie die Entführung von über 200 Schülerinnen in Nigeria durch die radikale Terrormiliz Boko Haram zum Anlass, dieses beeindruckende Buch zu schreiben. Sie reiste sogar nach Nigeria, um dort zum Thema zu recherchieren und mit Überlebenden dieser Entführung zu sprechen. Herausgekommen ist ein in einer klaren Sprache verfasster, eindringlicher Roman, der die tragischen Schicksale in der fiktiven Person der Maryam zusammenführt.
Maryam wird in der Schule zusammen mit vielen anderen jungen Mädchen von Boko-Haram- Soldaten gefangengenommen und zu einem Lager in einer abgelegenen Gegend verschleppt. Dort wird sie regelmäßig vergewaltigt, religiös indoktriniert und gezwungen, Sklavenarbeit für die Terroristen zu verrichten.
Als sie mit einem Veteranen der Gruppe zwangsverheiratet wird, ist sie erleichtert, denn sie entkommt den unmenschlichen Zuständen im Lager für kurze Zeit. Bald bekommt sie ein Kind. Als Regierungstruppen einen Vergeltungsangriff auf das Lager starten, kann Maryam mit dem Baby und ihrer Freundin Buki entkommen. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten erreicht sie ihre Familie, doch diese sieht nur die Schande, die Maryam für sie verkörpert, und gibt das Baby fort. Entschlossen kämpft Maryam dafür, ihre Tochter wiederzubekommen und sich eine unabhängige Existenz aufzubauen.
Ungeschönt, nüchtern, auf den Punkt beeindruckt das Handeln eines in seinen Grundfesten erschütterten Mädchens, dessen Zähigkeit und Durchhaltewillen ein Aufgeben immer wieder verhindern. Sehr gute Momentaufnahme eines zutiefst verunsicherten und gewaltüberzogenen Landes, das zwischen verschiedenen Ethnien und Religionen sowie Tradition und Moderne hin- und hergerissen keine positive kulturelle Identifikation ermöglicht und nicht zur Ruhe kommt.
Holly Bourne: Witchy Wishes -
Ohne Magie klappt das nie! 3 Teenies mit Ambitionen zur Hexerei mit Liebe für Pizza, Nachos & Dips!
Eine tolle Kombination und die „nur“ 139 Seiten bieten alles. Liebe, Drama, viel Gefühl, Freundschaft, Familie und jede Menge magische Sprüche. Letztere werden bei Bedarf auch einfach mal gegoogelt.
Das Schöne an diesem Buch, es kommt wirklich locker daher. Wir lernen Sophia, Alex und Mia kennen. Mit Witz werden wir in das Buch gelockt, wenn ein Eyelinerstift per telekinetischer Willenskraft seinen Standort ändern soll und Sophia sich selbst nicht zu 100 Prozent überzeugt zeigt, dass vielleicht doch der Luftzug, den Freundin Alex beim Betreten des Zimmers ausgelöst habe könnte, die Ursache für das Stiftkullern ist.
Jede der drei Freundinnen ist ein völlig anderer Typ und es läuft auch nicht immer rund zwischen den Dreien. Allen gemeinsam ist, dass sie die 9. Klasse derselben Schule besuchen.
Als Sophia schwer an Liebeskummer wegen dem Schulschwarm Aidan leidet und Alex für sich selbst sehr überraschend den Verlust des Familienhundes erlebt, ist die Idee geboren, da ein quasi zufälliger Schneezauber funktionierte, warum dann diese neu gefundenen Fähigkeiten nicht weiter nutzen?
Gemeinsam mit Mia veranstalten sie einen Hexenabend mit allem Drum und Dran. Und es ist erstaunlich, was auf dieser Übernachtungsparty alles passiert.
Was Sophia, die Normale, die Drama-Queen Alex und Mia, die Traurige an witzigen Situationen, traurigen Episoden und zu Herzen gehenden Freundschaftsdiensten erleben, passt kaum in dieses dünne Büchlein.
Und hierin ist auch die Qualität der Geschichte zu sehen. Holly Bourne schafft es in ihrem eigenen Stil eine tolle Geschichte über die feste Freundschaft drei sehr unterschiedlicher Charaktere mit witzigen Wortgefechten in kurzer Form aufs Papier zu bringen. Auch die tiefgründigen Momente lässt sie einen in ihrem leicht und flüssig zu lesenden Text gut aufnehmen.
Selbst nach fiesen Streits finden die 3 Freundinnen wieder zu sich zurück. Trotz der Ungerechtigkeiten des Lebens finden sie im Gefühlschaos ihre Stärken. In diesem Buch liegen Humor und Witz direkt neben echten Problemen.
Das Buch ist wirklich zu empfehlen.
Für mehr Zauberei im Leben, wenn´s hilft?!
James Gould-Bourn: Pandatage
Seit seine Frau vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam, läuft es für Danny Maloony schlecht. Sein 11-jähriger Sohn Will, der den Unfall überlebt hat, spricht nicht mehr, Danny hat seinen halbseidenen Vermieter wegen Mietschulden am Hals, und nun hat ihm sein Vorarbeiter auf der Baustelle auch noch gekündigt.
Die Suche nach einem neuen Job stellt sich als aussichtslos heraus, denn Danny hat keinerlei Qualifikationen. Auf seinen Streifzügen durch London beobachtet er in einem Park Straßenkünstler, die erstaunlich viel Geld mit ihren Darbietungen verdienen. In einer Kurzschlusshandlung kauft sich Danny ein Pandakostüm und versucht, sein Geld als tanzender Panda zu verdienen. Dumm nur, dass er nicht tanzen kann. Und eine Straßenkünstler-Lizenz hat er auch nicht. Können sein ukrainischer Kumpel Ivan und die Pole-Tänzerin Krystal ihm aus der Patsche helfen?
Es ist nicht erstaunlich, dass Kiepenheuer & Witsch, der deutsche Verlag von Nick Hornby, dieses Debut verlegt hat, denn Sujet und Stil sind im positiven Sinne vergleichbar. James Gould-Bourn unternimmt einen kurzweiligen, zu Herzen gehenden Ausflug zum unteren Rand der britischen Gegenwartsgesellschaft. Überzeichnet, voller Klischees, aber stimmig schildert er eine Vater-Sohn-Beziehung in schwierigen Zeiten. Unterhaltsam, tragikomisch, mit sympathischen Figuren, kurz: Popliteratur wie sie sein sollte.
Liane Moriarty: Tausend kleine Lügen
Jane flieht mit ihrem Sohn Ziggy vor ihrer Vergangenheit in den australischen Küstenort Pirirwee. Am Einschulungstag ihres Sohnes lernt sie die befreundeten Mütter Madeline und Celeste kennen. Der Vorwurf einer Mitschülerin, Ziggy hätte sie gewürgt, wirft einen Schatten auf den Tag. Ziggy bestreitet die Tat, und die Eltern, hauptsächlich die Mütter, spalten sich sofort in zwei Lager. Madeline und Celeste solidarisieren sich mit Jane. Doch alle haben ihre kleinen Geheimnisse und großen Sorgen, die sie jedoch erst im Laufe der Zeit mit den anderen teilen. An einem Quizabend der Eltern in der Schule eskaliert die Situation und endet mit einem Todesfall.
Im besten Sinne unterhaltsam erzählt Liane Moriarty aus der Perspektive der drei Frauen von Helikoptermüttern, der Leistungsgesellschaft, die mit ihren Zwängen schon vor den Kleinsten nicht haltmacht und von dem fragilen Konstrukt Familie, das selten völlig unbelastet doch nach außen hin immer perfekt sein muss, um den vermeintlich guten Platz in der Gesellschaft zu garantieren. Spannend, von – zum Teil hochkomischen - Zeugenaussagen gegenüber der Polizei unterbrochen, werden die Hintergründe der Tat nach und nach enthüllt. Trotzdem ist das Buch kein Thriller, sondern eine Geschichte der Freundschaft und Frauensolidarität inmitten der Probleme, die die Wohlstandsgesellschaft mit sich bringt.
Der Roman, in deutscher Übersetzung 2017 erschienen, wurde auch überaus passend und erfolgreich verfilmt. Die Miniserie unter dem Titel „Big little lies“ mit den namhaften Schauspielerinnen Reese Witherspoon, Nicole Kidman und Shailene Woodley erhielt 2018 den Golden Globe. Auch die nicht minder gelungene Fortsetzung ist sehr sehenswert.
Francesca Bonazzoli/Michele Robecchi: Gesichter mit Geschichten
Auf dem Buchrücken heißt es: „Ein Gang durch die Kunstgeschichte, der neue Perspektiven auf Bilder eröffnet, über die man bereits alles zu wissen glaubte.“ Besser lässt sich dieses faszinierende Buch nicht charakterisieren, denn es liefert Überraschendes und Unbekanntes zu bekannten Gemälden des ausgehenden 15. Jahrhunderts bis heute.
Das Neue: nicht der Künstler oder der Malstil stehen im Vordergrund, sondern die Dargestellten, ihre Geschichte hinter dem Bild, der gesellschaftliche Zusammenhang und nicht zuletzt wie der Künstler in die Geschichte passt. Bewusst kurzgefasst und unterhaltsam werden auf jeweils vier Seiten die Porträts unter diesen Gesichtspunkten erläutert. Zusammengetragen in 8 Kategorien, wie z.B. „Gefährliche Liebschaften“, „Am Rande der Gesellschaft“ oder „Der Schein trügt“ kann man bei den Kunstwerken der Rubrik Parallelen erkennen, die einem vorher nicht präsent waren. Zusätzlich werden Klatsch und Tratsch sowie Gesellschaftspolitik der Entstehungszeit berücksichtigt. Ein kurzer Abriss zum Künstler vervollständigt die einzelnen Beiträge.
Die Autor*innen sind ausgewiesene Kenner der Kunsthistorie. Francesca Bonazzoli schreibt für die Corriere della Sera, Michele Robecchi ist Autor und Herausgeber für zeitgenössische Kunst bei Phaidon Press. Man merkt den einzelnen Beiträgen das Detailwissen aber auch die Neugier auf ungewöhnliche Blickwinkel an. Kunstgeschichte einmal ganz anders. Machen Sie sich selber ein Bild …
Elizabeth Macneald: The Doll Factory
London, mitten im Viktorianischen Zeitalter, die erste Weltausstellung wirft ihre Schatten voraus. Die Schwestern Iris und Rose schuften in einer Puppenmanufaktur, sie bemalen Porzellanköpfe. Ein Großteil ihres Lohns geht an die Eltern. Beide sind gehandicapt, Rose ist durch die Blattern entstellt und Iris hat eine Deformation des Schlüsselbeins. Doch wo Rose verbittert mit ihrem Schicksal hadert, entwickelt Iris eine heimliche Leidenschaft und einen Ausweg aus dem Elend. Sie beginnt zu malen. Als ihr der aufstrebende Maler Louis Frost anbietet, ihm gegen Zeichenunterricht Modell zu stehen, nimmt sie an, obwohl es den Bruch mit ihrer empörten Familie bedeutet. Das Leben könnte nicht unterschiedlicher sein, denn Iris lernt nicht nur von Louis, sondern wird auch seine Muse. Schritt für Schritt meistert sie ein selbstbestimmtes Leben.
Doch eine große Gefahr schwebt über ihr, von der sie nichts ahnt. Aus einer für Iris unbedeutenden Begegnung mit dem Tierpräparator Silas entwickelt dieser eine krankhafte Obsession ihr gegenüber. Bisher ist er für die kunstvolle Präparation toter Tiere bekannt …
Kein gediegener historischer Roman, sondern eine unheimliche Entwicklungsgeschichte, die man sich auch gut verfilmt vorstellen kann. Die schottische Autorin lässt das Viktorianische London mit seinen harten Lebensbedingungen, seinen Ungerechtigkeiten und seiner nichtsdestotrotz großen Faszination für Wissen und Wissenschaften nebenher vor dem geistigen Auge des Lesers entstehen. Sprachlich eher unauffällig entwickelt die spannende Geschichte ihre Sogwirkung aus ihren ungewöhnlichen Protagonisten. Gelungen.
Eva Murges: Glow - Die Macht der Gedanken
Poppy Violet Harper, 18 Jahre, Sternzeichen Fische
Ganz normal, oder?
Poppy ist eine junge Frau, die von einem ominösen Rat der Ältesten von ihrer besonderen Gabe erfahren hat. Sie nimmt die farbigen Emotionspartikel anderer Menschen wahr. Erkennt sie Gefahren, kann sie Emotionen und Gedanken der anderen beeinflussen. Sie ist nun in ihrer Mission unterwegs, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Als ihr Name dann noch auf einer blutroten Liste auftaucht, kommt sie selbst in große Gefahr. Das ist das Los, das sie als Changerin zu tragen hat und das sie täglich ihr Leben aufs Spiel setzen lässt.
Irritiert ist sie von einem „Hottie“, der Emotionen einer ganzen Farbpalette bietet.
Bereits früh im Buch deuten sich Action, Dramatik und Romantik an. So ist dieser Roman feines Lesefutter für alle Romantasy-Fans.
Der Klappentext verspricht: „Poppy verstrickt sich mehr und mehr in einem Netz aus Intrigen und Gefahren und muss schon bald lernen, dass eine Entscheidung nicht nur ihr Herz, sondern eine ganze Welt ins Wanken bringen kann …“
Elisabeth Steinkellner: Papierklavier
Illustriert von Anna Gusella
So eine Schwester, Freundin, Tochter wünscht man sich.
Maia schreibt ein Tage- besser gesagt zeichnet ein Skizzenbuch.
Die Texte sind kurz und flüssig. Die Illustrationen machen in grandioser Weise das mitunter absurde Leben dieser Teenagerin deutlich. Mit Witz und Ernsthaftigkeit bietet sich Einblick in das alltägliche und naturgemäß außergewöhnliche Leben der 16-jährigen Maia.
Mit ihren zwei Schwestern Heidi und Ruth lebt sie mit ihrer allein erziehenden Mutter in einer kleinen Wohnung. Das Geld ist knapp und sie meint, zu viele Kilos auf den Hüften zu haben.
Den Platz der besten Freundin teilen sich zwei Menschen. Alex, mit der sie gemeinsam zur Schule geht und Carla – Engelbert, 23 jährig, der*die im Privaten das Leben einer Frau und im Beruf, das Leben eines Mannes führt, nicht wissend, ob solche Kategorien mal belanglos werden.
Es gibt keine ausgewiesenen und abgeschlossenen Kapitel, keine Seitenzählung.
Man fliegt lesend und guckend durch das Buch - ohne Stopp und ohne Halt. Die Szenen fügen sich ineinander, so schnell wie das Leben eben ist. Aus dem schöpft sich die große Vielzahl an Themen wie zum Beispiel Freundschaft, Lachen, Tod, Trost, Talent, Liebe, Selbstzweifel, Wünsche, Verantwortung und Realitäten denen man eben ausgesetzt wird.
Maia ist ein Mensch, der das Leben nimmt wie es kommt und es anpackt. Da geht auch mal etwas schief und das fühlt sich nicht gut an. Egal! Mit Freund*innen, die einfühlsam sind und helfen, geht das schon. Und wenn nötig, muss man eben mal jemandem „den Kopf waschen“.
Das Buch macht Spaß, weil es in kurzen Abschnitten schafft, das verrückte Leben dieser 16-jährigen in Text und Bild zu beleuchten.
Auch wenn das Buch in einem Rutsch zu lesen ist, lohnt es sich bei sehr vielen Episoden inne zu halten – in sich selbst hineinzuhorchen und eigene Haltungen oder Erfahrungen zu beleuchten und zu bedenken.
Beim Nachdenken kommen dann vielleicht Fragen auf, wie: „Was will ich für mich, was will ich für andere, und wie sollen andere zu mir sein?“
Rundum ein gelungenes Buch. Schön und schnell zu lesen / zu gucken und wer mag hält eben auch inne.
Shobha Rao: Mädchen brennen heller
Purnima ist 16 und lebt mit ihrem Vater und ihren Geschwistern in einem indischen Dorf. Den Lebensunterhalt bekommen sie gerade so zusammen seit die Mutter gestorben ist und nicht mehr beim Weben von Saris helfen kann. Abhilfe soll ein Mädchen schaffen, das der Vater anstellt. Savita ist ein Jahr älter, noch ärmer als Purnima, aber trotzdem hat sie einen Plan. Sie möchte diesen Verhältnissen entkommen und ein selbstbestimmtes Leben führen. Die beiden Mädchen verlieben sich ineinander, doch nachdem Savita brutal vergewaltigt wird, bleibt ihr nur die Flucht in die Fremde.
Purnima bleibt allein zurück, wird von ihrem lieblosen Vater zwangsverheiratet und vegetiert in dieser arrangierten Ehe vor sich hin. Auch die Familie des Bräutigams hat nur Verachtung für sie übrig, da sie nicht schwanger wird. Einziger Lichtblick sind ihre Erinnerungen an Savita. Und so reift auch in Purnima ein Fluchtplan, sie will ihre Freundin wiederfinden ...
Der 2019 auf Deutsch erschienene Debutroman hat es in sich. Die indischstämmige Shobha Rao lebt in den USA und war dort als Rechtsanwältin im Bereich häuslicher Gewalt tätig, häufig für Frauen mit Migrationshintergrund. Nicht für Zartbesaitete zu empfehlen ist der Roman dennoch in einer poetischen Sprache verfasst und bietet letztendlich einen Hoffnungsschimmer für die Heldinnen, den man während der Lektüre kaum für möglich gehalten hätte. Diese meisterliche, beispielhafte Schilderung der Lebensumstände der Frauen im heutigen Indien lässt die Lesenden betroffen zurück und hallt noch lange nach.
Christiane Wegner: Prinzessinnen-Dutt & Indianer-Zopf: Pfiffige Flechtfrisuren für Kids & Teens
Das Buch verspricht auf seinem Cover 39 tolle Flechtfrisuren Schritt für Schritt erklärt.
Beim ersten Durchblättern kommt man aus dem Staunen nicht heraus, was man mit langen Haaren alles anstellen kann. Verblüffend ist zudem der französische Zopf im kurzen Haar, der auf einem Jungenkopf geflochten wurde.
Ist die Entscheidung gefallen und ein Modell ausgewählt, lassen die ausführlichen Bildanleitungen tatsächlich einen Schritt nach dem anderen nachvollziehen. Mit Bild und Textbeschreibung wird klar, was wann zu tun ist, um aus langen Haaren schöne Hingucker zu machen. Aber nicht nur die Schönheit, auch der praktische Nutzen zählt. Denn beim Sport muss die Frisur ja standhalten können.
Für Flechtanfänger*innen lohnt es sich auf jeden Fall, den ersten Teil des Buches anzuschauen, um sich mit Materialien und Grund-/techniken vertraut zu machen. Da erfährt man, dass Donuts auch auf dem Kopf ihren Platz finden und wie Curlys eingesetzt werden können.
Sehr schön ist es, dass dieses Buch zu kooperativem Tun anregt. Eine*r bringt die langen Haare mit und dann braucht es noch jemanden mit geschickten Fingern. Da wird es bestimmt den ein oder anderen gemütlichen Nachmittag geben, an dem in aller Ruhe die Frisur(en) ausprobiert werden.
Das Buch bietet eine gelungene Auswahl nach Anlass oder nach Gemütslage. Von Schulalltag bis Abschlussball finden sich witzige, verspielte, kindliche, jugendliche, elegante oder romantische Kreationen.
Aber gewundert hat es mich schon, Frisuren für die Schule? Nun gut, wer gerne früh aufsteht oder wer tatsächlich fix seine Haare kunstvoll verschlingen, verzwirbeln, aufstecken und zusammenbinden kann für den ist das ein Klacks. In modernen Zeiten wollen wir auch die Video-Konferenzen nicht vergessen.
A pro pos Zeit. Jede Frisurenbeschreibung beginnt mit Informationen zur Dauer (von 10 Minuten bis 40 Minuten), gibt Hinweise auf den Schwierigkeitsgrad von einfach bis knifflig und selbstverständlich findet sich ergänzend eine Auflistung der benötigten Materialien.
Es ist ein gut fotografiertes und getextetes Buch. Ein Buch für große und kleine Schwestern, Freundinnen, geduldige Brüder, Mütter, Väter…
Also Haare wachsen lassen und ran ans Buch.
Passt der Titel zum Buchinhalt? Ich finde nicht. Viele Zöpfe und Haarkunstwerke, die hier gezeigt werden sind so vielfältig, dass sie weit über das Kinder- und Teens-Alter hinaus getragen werden können.
Delphine de Vigan: Dankbarkeiten
Michka geht es nicht gut. Sie, die ihr ganzes Leben lang unabhängig gewesen ist, kann nicht mehr alleine in ihrer Wohnung leben. Zu groß sind die Klippen, die sich vor ihr auftürmen. Zudem verliert sie nach und nach die Wörter, was ihr großen Kummer bereitet. Die junge Nachbarin Marie, die sich immer ein bisschen um sie gekümmert hat, besorgt Michka einen Platz in einem Seniorenheim. Dort fühlt sich Michka nicht unbedingt wohl, immer wieder erlebt sie alptraumhafte Fantasien über die Direktorin des Hauses und misstraut dem Personal.
Lichtblicke sind die Besuche von Marie und Jerôme, einem Logopäden, der unermüdlich versucht, Michkas sprachliche Verluste aufzuhalten. Beiden ist die alte Dame sehr ans Herz gewachsen. Daher versuchen sie mit unterschiedlichen Ansätzen, den letzten großen Wunsch Michkas zu erfüllen: sich bei dem Ehepaar zu bedanken, das ihr im Krieg Unterschlupf gewährt hat.
Nach ihrem letzten Bestseller “Loyalitäten“ über einen alkoholkranken Jungen ist Vigan wieder ein unaufdringlicher, trauriger, nichtsdestotrotz wunderschöner, gut komponierter Roman gelungen. Die Themen Alter und Krankheit sind zwar nicht für alle angenehm, hier aber meisterlich behandelt, ohne Bitterkeit und mit viel Einfühlungsvermögen. Die Sprache in der sehr gelungenen Übersetzung von Doris Heinemann gibt das Thema angemessen und plastisch wieder. Aus den wechselnden Perspektiven von Michka, Marie und Jerôme wird beispielhaft geschildert, wie sich ein Leben in Würde dem Ende nähern kann. Erneut sehr empfohlen.
Jochen Till: Memento Monstrum
Bereits der Klappentext enthält die Warnung dieses Buch besser wegzulegen, da die Leserschaft Dinge über Vampire, Yetis, Werwölfe, Mumien und Fischmonster erfahren könnte, die das Grusel-Weltbild ins Wanken bringen.
Auf dem Cover prangt niemand Geringes als Graf Vlad Dracula, eine knuffige und wuschelige Fledermaus mit Brille und Morgenmantel, selbst die Blutspuren im Gesicht wirken eher liebenswert als gruselig.
Der Graf, von seiner Gattin Selena liebevoll Hasenpups genannt, ist in Panik. Frau und Tochter haben ein Wellnesswochenende in den Katakomben von Paris gebucht, während der Schwiegersohn in Dublin auf einem Kongress zum Thema „Effektiver Sonnenschutz“ weilt. Dracula muss sich erstmals allein um seine drei Enkelkinder kümmern und aufpassen, dass sie nicht gepfählt oder dem Sonnenlicht ausgesetzt werden, rechtzeitig in den Särgen liegen, nicht zu viele Blut-Lollis naschen und ihr Blutwurstbrot brav essen. Bei Familie Dracula ist es nicht anders als bei Menschen. Da ist die Kleinste: Globine, die etwas zickige Vira und der Vampir-Teenie Rhesus, der ständig am Handy hängt. Es wird gestritten, Unsinn angestellt oder Rhesus fällt über seine eigenen Füße, weil er in seinem Computerspiel beschäftigt ist Werwölfe zu erledigen– purer Stress für Opa Vlad.
Um die Drei zu beschäftigen erzählt Dracula in der Bibliothek des Riesenhauses, in dem er sich regelmäßig selbst verläuft, Erlebnisse seines 600-jährigen Lebens. Seine Erzählungen sind im Gegensatz zur Rahmenhandlung natürlich blutrot gedruckt. Die Illustrationen von Wiebke Rauers begleiten den Text auf ansprechend witzige Weise.
U.a. erfährt man, dass Draculas Widersacher Van Helsing eigentlich ein trotteliger, aber nicht minder fieser Zombie ist, der Yeti eigentlich ein Yetimädchen mit einer Vorliebe für Ballett ist und die Beatles einen Werwolf als Schlagzeuger hatten und das Fischmonster ein Olympiateilnehmer war.
Für dieses Buch schlagen zwei Herzen in meiner Brust. Zum einen ist es wirklich witzig geschrieben und die Illustrationen ergänzen die Geschichte gut, allerdings stellt das Buch – wie allein schon der Titel vermuten lässt – für Kinder zum Selberlesen in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung dar. Ich glaube nicht, dass die Kinder heute noch wissen wer Anna Pawlowa war oder vielleicht auch die Beatles und der Starclub nicht gerade geläufig sind (seufz). Auch manche Begriffe wie Symposium, Aktivist, Attitüde oder Doping sind für die Zielgruppe ab 8 Jahren nicht gerade einfach zu verstehen und zu lesen. Aber es ist allemal ein schönes Vorlesebuch, an dem auch Erwachsene ihren Spaß haben.
Beste Bilder 11: Die Cartoons des Jahres
Klappentext: Beste Bilder 11 ist die Fortsetzung der erfolgreichen Reihe, die seit 2010 festhält, wie sich Satire, Humor und Zeichenstile in Deutschland entwickeln und was von den jeweiligen Jahren in Erinnerung bleiben soll.
Dem kann man sich nur anschließen. In diesem Jahr - wenig überraschend - mit dem Fokus auf Corona, aber natürlich bekommen Politik und Gesellschaft auch ihr Fett weg, manchmal ziemlich derb. Trotzdem lohnend, immer mal wieder reinschauen, und sich amüsieren über diesen wunderbaren Überblick der Cartoon-Welt 2020.
Thorsten Nagelschmidt: Arbeit
Berlin brüstet sich gerne als hippe Großstadt, in der das Leben aufregend und sexy ist.
Hier kommt nun der Gegenentwurf von einem, der Berlin wie seine Westentasche kennt und einen originellen Blick hinter die Kulissen wirft. Thorsten Nagelschmidt ist nicht nur Autor sondern auch Sänger der Band Muff Potter und lebt auch in der Hauptstadt. Dass er die Einwohner sehr gut studiert hat, machen diese lose verknüpften Episoden aus dem Berliner Nachtleben deutlich. Ton und Inhalt sind wunderbar getroffen, die Protagonisten authentisch und sympathisch, auch wenn sie nicht immer sympathische Dinge tun.
Da geht es um Drogendealer, Rezeptionisten, Türsteher, Taxifahrer, Fahrradkuriere, Notfallsanitäter … allen ist gemein, dass sie sich so gut es geht durchs Leben kämpfen. Mit Freude oder aufregenden Erlebnissen, die Touristen oder Feierwütige mit dem Aufenthalt in Berlin verbinden, hat das oft wenig gemein. Doch alle identifizieren sich mit ihrer Arbeit und füllen damit die Leere aus, die in ihrer Gefühlswelt oft vorherrscht. Dass ihnen auch dabei nicht alles gelingt, bzw. sie negative Begleiterscheinungen in Kauf nehmen, um diesen Halt im Leben nicht zu verlieren, macht die mosaikartigen Geschichten umso überzeugender.
Eindrucksvolle Milieustudie des Berliner Nachtlebens von seiner glanzlosen Seite. Empfehlung für alle, die gerne die der Öffentlichkeit abgewandte Seite betrachten und sich vom Glamour und dem Ruf einer Stadt nicht blenden lassen.
Susan Fletcher: Das Geheimnis von Shadowbrook
London, 1914: Die junge Clara Waterfield hat sich nach dem Tod ihrer heiß geliebten Mutter mit den Einschränkungen ihrer Glasknochen-Krankheit mehr schlecht als recht arrangiert. Bücher und Botanik spenden ihr Trost, häufig ist sie im Tropenhaus von Kew Gardens zu finden. Als ihr ein Auftrag zur Einrichtung eines Palmenhauses in Gloucestershire angeboten wird, zögert sie nur kurz, um sich dann unerschrocken in dieses Abenteuer zu stürzen. Doch schon der Empfang ist merkwürdig. Der Hausherr und Auftraggeber ist nicht anwesend und die ihn vertretende Haushälterin benimmt sich seltsam.
Woran das liegt, erfährt Clara in den nächsten Nächten, hört sie doch deutlich Schritte aus dem verlassenen Obergeschoss und vor ihrer Tür, sieht aber niemanden. Auch frisch gepflückte Blumen sind nach einem halben Tag in der Vase verblüht. Erste Gerüchte um einen Spuk gelangen Clara zu Ohren, und sie, die alles wissenschaftlich untersucht und einen klaren Kopf hat, gewöhnt sich langsam an diesen Gedanken. Neugierig geworden sammelt sie alle Informationen über den Geist, die verstorbene Veronica, die einst in dem Haus lebte und bei der Dorfgemeinschaft immer noch in Ungnade steht. Doch je mehr sie über Veronica erfährt, desto faszinierter ist sie von ihr und ihrer Lebensgeschichte. Unerwartete Unterstützung bekommt sie bei ihren Nachforschungen von George Lowe, einem Mitglied der Society for Psychological Research, den der Hausherr beauftragt hat, die gespenstischen Vorkommnisse im Haus zu untersuchen. Kommen die Beiden den unerklärlichen Vorgängen auf die Spur?
Ein angenehm altmodisch erzählter, sehr lesenswerter Roman mit einer interessanten Hauptfigur. Einfühlsam beschreibt Susan Fletcher die Gedanken und die Entwicklung Claras zu einer eigenständigen, hellwachen Frau, die nicht nur der engstirnigen Dorfgemeinschaft die Stirn bietet, sondern durchaus trotz ihrer Krankheit die Männerwelt fasziniert. Gelungen.
Every Day for Future
100 Dinge, die du selbst tun kannst, um das Klima zu schützen, nachhaltig zu leben und die Natur zu bewahren
Der sehr lange Buchtitel sagt eigentlich alles. 100 Tipps vom saisonalen Einkauf, über
Vorratshaltung bis zu Fahrgemeinschaften und Müllvermeidung. Einige Tipps sind nicht unbedingt für Kinder nachvollziehbar, aber dennoch für Familien interessant.
Die Fakten zu den einzelnen Tipps sind faszinierend. Z.B. was passiert, wenn man ständig die Kühlschranktür offenstehen lässt, bzw. frischgekochtes Essen dorthinein stellt. Der Kompressor eines Kühlschranks springt an um die optimale Temperatur wieder herzustellen bzw. zu halten und die Kühlkette nicht zu unterbrechen.
Ein Kompressor verbraucht in 30 Minuten ca. 0,1 kwH. Wenn er sich also im Laufe eines Tages 10x für 30 Minuten einschalten muss, verbraucht er 1 kwH. Damit könnte man eine Pizza aufbacken, 7! Stunden fernsehen oder 5 Stunden am PC spielen. Da überlegt man es sich zweimal ob man ständig an den Kühlschrank geht oder in einem Schritt alles Benötigte herausholt.
Die Mischung zwischen Tipps und Fakten macht das Buch zu einem kurzweiligen Vergnügen.
Plastik? Probier's mal ohne!
von
Kienle, Dela
Hellmeier, Horst
„Toller Teufel Plastik“, so bezeichnet die Autorin den Stoff, der uns den Alltag erleichtert, aber gleichzeitig ein riesiges Problem für die Umwelt darstellt. Plastik ist beinahe „unkaputtbar“ und genau das ist das Problem.
Welche Kunststoffe gibt es eigentlich und wofür verwenden wir Plastik? Die Antwort ist einfach: Für alles! Verpackungen, Gebrauchsgegenstände, Kleidung, Baustoff, Autos, Elektrogeräte, sogar in der Landwirtschaft – überall ist Plastik zu finden und es ganz aus dem Alltag zu verbannen ist schwieriger als gedacht.
Auch in diesem Buch gilt die Devise: Jeder/Jede hat es selbst in der Hand etwas zu ändern. Die Tipps sind auf die Welt der Kinder abgestimmt, z.B. den Inhalt des Schulranzen halbwegs plastikfrei zu gestalten oder das Pausenbrot in einer Metallbox mitzunehmen.
Wie viel wärmer ist 1 Grad? - Was beim Klimawandel passiert
von
Scharmacher-Schreiber, Kristina
Marian, Stephanie
Wenn von Klima die Rede ist, ist das Wetter gemeint? Warum sind die Menschen besorgt, weil es gerade mal ein Grad wärmer wird?
Aus diesem Buch können Erwachsene noch etwas lernen. Anhand von leicht verständlichen Sachtexten und anschaulichen Illustrationen wird das komplexe Thema Klimawandel sehr gut erklärt.
Angefangen von den unterschiedlichen Klimazonen, über einen kleinen Ausflug in die Erdgeschichte, werden die Ursachen des Klimawandel und seine Auswirkungen kindgerecht dargestellt. Auch der ökologische Fußabdruck eines jedes Einzelnen wird nachvollziehbar erklärt und mit einfachen Illustrationen unterstützt. Treibhausgase, alternative Energien, selbst das Pariser Klimaabkommen wurden so anschaulich aufgearbeitet, dass sich Seite für Seite der Aha-Effekt einstellte.
Besonders gefiel mir an diesem Buch die unaufgeregte Sachlichkeit, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt und den Leser und die Leserin in die richtige Richtung stuppst das eigene Verhalten zu hinterfragen und zu ändern – ganz ohne erhobenen Zeigefinger.
Tim Winton: Die Hütte des Schäfers
Jaxie Clackton ist auf der Flucht. Nach dem Tod seiner Mutter hat sich die Grausamkeit und Brutalität seines Vaters ganz auf Jaxie konzentriert. Als dieser seinen Vater eines Abends nach einem Unfall tot in der Garage auffindet, befürchtet er, als möglicher Tatverdächtiger zu gelten und macht sich ziemlich unvorbereitet auf den Weg zu seiner großen Liebe in den Norden. Doch die Flucht stellt sich als gewaltige Herausforderung dar, denn die unbarmherzige Natur der australischen Busch- und Wüstenlandschaft, durch die er wandert, um den Menschen aus dem Weg zu gehen, verlangt ihm körperlich alles ab. Als er am Rande der Salzwüste eher zufällig auf die Hütte eines Einsiedlers namens Fintan MacGillis stößt, beschließt er, erst einmal dort zu bleiben. Doch etwas ist seltsam an diesem alten, irischen Mann und trotz aller Gastfreundschaft gelingt es Claxie nicht, ihm restlos zu vertrauen. Und dann ist da auf einmal dieses ferne, aber gleichbleibende, durchgängige Geräusch. Sind die Beiden doch nicht alleine in dieser Einöde? Und bedeutet das Gefahr? Jaxie ist hin- und hergerissen zwischen seinem Wunsch, einfach vor der neuerlichen potenziellen Bedrohung zu fliehen, oder Fintan zu helfen und ihm die Flucht zu ermöglichen …
Der australische Autor Tim Winton ist in seiner Heimat durch eine große Anzahl an Romanen, Sachbüchern und Kinderbüchern bekannt und sogar preisgekrönt.
Dieser Roman aus dem Jahre 2019 demonstriert beispielhaft die Klasse des Autors, bleibt seine Sprache doch immer sehr überzeugend, dem jugendlichen Alter des Protagonisten geschuldet derb, aber authentisch. Gleichzeitig fängt er besonders gekonnt die Psyche des jungen Mannes ein, seine Unsicherheiten und die Verletzlichkeit dieses Lebensalters. Obwohl Jaxie schon so viel Brutalität und psychische Grausamkeit durch seinen Vater erlebt hat, ist er doch ein sensibler junger Mann, der immer noch versucht, sein Schicksal und das seiner geliebten Menschen zum Guten zu wenden. Meisterhaft auch in den Naturbeschreibungen erhält man eine realistische Darstellung Australiens abseits der Touristenströme und der gesicherten Mittelschicht. Literarisch und inhaltlich ein großer Wurf.
Amy Stewart: Die unvergleichliche Miss Kopp und ihre Schwestern
New Jersey 1914: Miss Kopp hat es nach dem Tod ihrer Mutter nicht leicht, lebt sie doch mit ihrer starrköpfigen Schwester Norma und ihrer jungen, leichtsinnigen und lebenslustigen Schwester Fleurette ohne die Hilfe eines Mannes auf einer Farm nahe New York. Und wenn die Dinge nicht so richtig rund laufen und das hinterlassene Geld der Mutter langsam schwindet, kommt auch noch Pech dazu. Bei einem Ausflug in die nächste Kleinstadt werden die drei Damen in ihrer Kutsche von einem Automobil angefahren. Gottseidank gibt es viele Schaulustige, denn mit den Fahrzeuginsassen - allen voran dem Seidenfabrikanten Henry Kaufman – ist nicht zu spaßen.
Als Miss Kopp erfolglos versucht, den entstandenen Schaden an der Kutsche durch einen Besuch in Kaufmans Büro ersetzen zu lassen, werden die drei Schwestern anfangs noch harmlos, aber dann immer massiver durch Henry Kaufman und seine Bande bedroht.
Doch Constance Kopp lässt sich nicht so leicht einschüchtern und schaltet die Polizei ein, die ihr zuerst allerdings wenig Interesse und Mithilfe entgegenbringt, will sich doch niemand in der Stadt mit der einflussreichen Fabrikantenfamilie anlegen. Erst als der sympathischen Sheriff Heath eingreift, bekommen die drei Schwestern die benötigte Unterstützung, inkl. Dauerüberwachung und Schießtraining. Kann sich alles zum Guten wenden, oder geht auch ihre Farm in Flammen auf, wie so viele andere Behausungen eingeschüchterter Bürger, die durch die Bande “Schwarze Hand” terrorisiert werden?
Dieser gut gelaunte Debütroman einer amerikanischen Autorin beruht auf Tatsachen und besticht durch seine sympathischen Figuren und das originelle Thema. Leicht zu lesen macht er Lust auf mehr. Und das kann bedient werden, denn mit “Die unvergleichliche Miss Kopp schlägt zurück” liegt bereits der Folgetitel vor, der ebenfalls in der Bibliothek im zib entliehen werden kann. Genau das Richtige für die Sommerferien oder einen lauschigen langen Sommerabend im Garten.
Patrick Salmen: Ekstase ist doch auch mal ganz schön
Unter Titeln wie „Viele meiner besten Freunde sind Enten“, „“Bushaltestelle“ oder „Wahrscheinlich nie stattgefundene Flirtgespräche“ präsentiert Patrick „Paddel“ Salmen dem Leser hochkomische Miniaturen, die sich mit dem bundesdeutschen Alltag beschäftigen und ihn gekonnt und treffend sezieren.
Dabei liegt ein Schwerpunkt auf den Großstadthipstern oder solchen, die es gerne wären, und deren aufgeblasenen Lebensentwürfen, die trefflich entzaubert werden. Influencer, Barista-Schaumschläger oder Helikoptereltern: alle nimmt Salmen aufs Korn. Trotzdem ist das Ganze nicht einfach nur negativ, oder abschätzig, denn Herr Salmen ist gleichzeitig der Selbstironie fähig.
Der Kabarettist und Poetry-Slammer ist in der Szene bekannt. Zurecht, zieht sich doch seine feine Beobachtungsgabe und seine milde Misanthropie als roter Faden durch die kurzen, immer prägnanten und schreiend komischen Szenen, Betrachtungen und Zustandsbeschreibungen der deutschen Gegenwartsgesellschaft mit all ihren Absurditäten.
Lektüre, die einfach Spaß macht. In Salmens Sinn: Eine wunderbare Auszeit vom stressigen Alltag, alles supereasy!
Sam Byers: Schönes neues England
Der britische Schriftsteller Sam Byers legt mit“Schönes neues England“, im Original „Perfidious Albion“ seinen zweiten Roman vor. Dieser beschäftigt sich – von der momentanen Corona-Krise und dem Klimawandel abgesehen – mit den großen Themen der westlichen Welt. Entmenschlichung der Arbeit und Gesellschaft, (un)soziale Medien und deren negative Begleiterscheinungen, Rechtspopulismus, Gentrifizierung, Cyber-Terrorismus und nicht zuletzt die Folgen des Brexit. Doch wer nun denkt, damit hat sich der Autor übernommen, der irrt. Traumwandlerisch sicher mischt Sam Byers diese Themen zu einem stimmigen Szenario, das er in der nahen Zukunft ansiedelt.
Eine Kleinstadt im Osten Englands, nach dem Brexit:
Die hippen (Möchtegern-)Intellektuellen der Großstadt haben sich nach Edmundsbury verzogen, hier ist der place to be. Der gesellschaftliche Frieden ist jedoch brüchig, in den Köpfen brodeln Angst und Wut. Beherrscht wird das Örtchen von einem undurchsichtigen, multinationalen Technologie-Unternehmen, das seine Angestellten mit seiner Work-Life-Balance bis aufs Blut aussaugt. Die politische, unsichere Situation nach dem Brexit weiß ein rechter Politiker für sich zu nutzen. Dieser unterstützt auch die Umwandlung einer heruntergekommenen Wohnsiedlung in eine technologisch voll vernetzte Luxuswohnanlage. Dass die verbliebenen Mieter weichen müssen, versteht sich von selbst. Ein Journalist versucht mittels einer halbherzigen Untersuchung sowie kritischen Kommentaren diese Tatsache für seine Reputation zu nutzen, denn das Thema ist ja so aktuell bedeutsam. Zu schaffen machen ihm allerdings seine hater, die seine Kommentare im Netz wiederum hasserfüllt kommentieren.
Die Ereignisse geraten außer Kontrolle, als eine maskierte Gruppe von Cyber-Terroristen namens wirsinddeingesicht.com die digitalen Äußerungen und Interessen der Einwohner öffentlich macht …
Trotz des angsteinflößenden, düsteren Inhalts ist dieser Roman im besten Sinne unterhaltend, denn der Autor trifft mit seinem schwarzen Humor immer den Nerv, und so lacht man sich durch den Schrecken.
So now, und so wow. Lesen !
Das Buch im Katalog der Bibliothek im zib...
Chip Cheek: Tage in Cape May
Ein beeindruckender, unterhaltsamer Trip in die USA der späten 1950-er mit all ihren Vorstellungen, Konventionen und beginnenden Ausbrüchen in die individuelle Freiheit.
Das frischgebackene, junge Ehepaar Effie und Henry aus dem ländlichen Georgia verbringt in Cape May am Meer seine Flitterwochen. Effie kennt den Ort von dortigen Aufenthalten bei Verwandten in ihrer Kindheit. Doch das heimelige Gefühl von damals will sich nicht so recht einstellen, die Flitterwochen gestalten sich langweilig und spießig, durch das Ende der Touristensaison bietet der Ort kaum Zerstreuung. Nachdem die Beiden schon beschlossen haben, vorzeitig wieder nach Hause zu reisen, treffen sie zufällig auf Clara. Effie kennt diese aus ihrer Kindheit, sie wurde damals von Clara und Effies älterer Schwester drangsaliert. Trotz des Schellens sämtlicher Alarmglocken sind Effie und Henry fasziniert von der mondänen Clara und ihrer Entourage. Die Langeweile hat ein Ende, mehr und mehr schließt sich das unerfahrene Paar den Aktivitäten Claras, ihres Liebhabers Max und dessen Schwester Alma an, die Abreise wird verschoben. Angezogen von der Freizügigkeit und der offenen Sexualität der drei gerät vor allem Henry immer mehr in Versuchung und lässt sich auf eine Affäre mit Alma ein, von der Effie vorerst nichts ahnt. Kann das gutgehen?
Elegant, zum Teil pikant und sehr fesselnd beschreibt Chip Cheek in seinem Debutroman die Auswirkungen von Möglichkeiten auf sicher geglaubte Überzeugungen und Wertevorstellungen und lässt seine Leser nachdenklich zurück.
Das Buch im Katalog der Bibliothek im zib...
George Saunders: Fuchs 8
Der Inhalt ist schnell erzählt: Fuchs 8 ist eigentlich ein Außenseiter in seinem Fuchsrudel. So lernt er zum Beispiel die Sprache der Menschen und ist häufiger anderer Meinung als der Anführer. Trotzdem wird er im Rudel geduldet und hat mit Fuchs 7 einen besten Freund. Als jedoch im Lebensraum des Rudels ein großes Einkaufszentrum gebaut wird, und damit den Tieren der Hungertod droht, wird Fuchs 8 aktiv und versucht, zusammen mit Fuchs 7 mit den Menschen in Kontakt zu treten. Kann das gutgehen?
Stilistisch ist das Buch ein Gewinn für alle, die sich auf dieses „Menschisch“ einlassen können. So schildert Saunders die Geschichte in einer Sprache vergleichbar mit den ersten Schreibversuchen von Grundschulkindern, wunderbar passend übersetzt von Frank Heibert. Das regt häufig zur Heiterkeit an, auch wenn der Inhalt doch eher tragisch ist und zum Nachdenken über unseren modernen Lebensstil mit seinen verheerenden Auswirkungen auf die Umwelt anregt.
Und wieder hat der Man-Booker-Preisträger einen rausgehauen, diese moderne Fabel macht trotz des ernsten Hintergrundes einfach Spaß, mal wieder etwas ganz Anderes von Herrn Saunders.
Das Buch im Katalog der Bibliothek im zib...
Jason Rekulak: Billy Marvins Wunderjahre
Mitten hinein in die 80-er Jahre katapultiert uns der Autor mit seinem Debutoman aus dem Jahre 2018. Dabei spielen der Playboy, der Commodore 64, Computerspiele und eine Gruppe von drei Freunden sowie die große Liebe Hauptrollen.
Will ist ein begeisterter Computerspieler und gerade dabei, sein erstes Spiel selbst zu entwickeln. Gleichzeitig hängt er mit seinen Freunden Clark und Alf zuhause ab, wenn seine Mutter arbeitet, oder macht mit ihnen die Gegend unsicher. Eines Tages macht das Gerücht die Runde, dass die wunderschöne Glücksrad-Fee Vanna White im neuesten Playboy-Heft abgebildet ist. Aber wie rankommen, wenn man erst 14 Jahre alt ist? Ein wahnwitziger Plan nach dem nächsten wird geschmiedet, um dann grandios zu scheitern. Der letzte endet sogar auf der Polizeiwache und für einen Beteiligten auf der Intensivstation des Krankenhauses.
Ganz nebenbei verliebt sich Will in die geheimnisvolle, intelligente und hilfsbereite Tochter des Schreibwarenhändlers, die ihm beim Programmieren seines Computerspiels unter die Arme greift.
Augenzwinkernd und mit viel Verständnis für die Probleme und Unsicherheiten der Jugendlichen, die diese hinter einer coolen Fassade zu verbergen suchen, erzählt der Herausgeber Rekulak in seinem ersten Roman eine Geschichte des körperlichen und seelischen Heranwachsens in aufregenden Zeiten. Wunderbar, schön gestaltet, für alle Junggebliebenen ein Genuss.
Das Buch im Katalog der Bibliothek im zib...
Kathi Appelt und Alison McGhee: Renn, Senna, renn
Die beiden Schwestern Sylvie und Jules leben seit dem Tod ihrer Mutter allein mit ihrem Vater in einem abgelegenen Haus in Vermont. Ihr Vater hat einige Regeln aufgestellt, an die die Mädchen sich halten müssen. Eine davon besagt, dass sie nie alleine an den Slip, den gefährlichen Fluss unweit ihres Hauses, gehen dürfen. Jedoch halten Sylvie und Jules sich oft nicht an diese Regel und gehen an den Fluss, um Wunschsteine hinein zu werfen.
Trotz ihrer Gegensätzlichkeit sind die Schwestern unzertrennlich, allerdings verschwindet die ältere Sylvie immer wieder alleine im Wald um zu rennen. Denn sie hat nur einen Wunsch: sie will schneller rennen können als alle anderen.
Eines Morgens rennt Sylvie wieder in den Wald in Richtung des Flusses, obwohl Jenna versucht, sie aufzuhalten. Sylvie kehrt nicht zurück und alles deutet darauf hin, dass sie über eine Wurzel gestolpert und im Slip ertrunken ist. Jules gibt sich die Schuld daran und sie und ihr Vater sind am Boden zerstört.
Zeitgleich wird das Fuchsmädchen Senna geboren. Die Fuchsmutter spürt direkt, dass ihre Tochter besonders ist – ein so genannter Wisserer. Senna fühlt sich gleich mit Jules Schicksal verbunden und die Wege der beiden müssen sich einfach kreuzen.
„Renn, Senna, renn“ ist ein wunderschönes Buch über Familie, Freundschaft, Verlust und Trauer, das direkt in seinen Bann zieht und nicht wieder loslässt. Die Kapitel sind abwechselnd aus der Sicht von Jules und Senna dargestellt. Auch die Nebenfiguren und deren Einzelschicksale stechen hervor und bleiben im Gedächtnis.
Das Buch ist im Verlag Beltz & Gelberg erschienen und sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene geeignet.
Empfohlen ab 12 Jahren.
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Die beiden Schwestern Sylvie und Jules leben seit dem Tod ihrer Mutter allein mit ihrem Vater in einem abgelegenen Haus in Vermont. Ihr Vater hat einige Regeln aufgestellt, an die die Mädchen sich halten müssen. Eine davon besagt, dass sie nie alleine an den Slip, den gefährlichen Fluss unweit ihres Hauses, gehen dürfen. Jedoch halten Sylvie und Jules sich oft nicht an diese Regel und gehen an den Fluss, um Wunschsteine hinein zu werfen.
Trotz ihrer Gegensätzlichkeit sind die Schwestern unzertrennlich, allerdings verschwindet die ältere Sylvie immer wieder alleine im Wald um zu rennen. Denn sie hat nur einen Wunsch: sie will schneller rennen können als alle anderen.
Eines Morgens rennt Sylvie wieder in den Wald in Richtung des Flusses, obwohl Jenna versucht, sie aufzuhalten. Sylvie kehrt nicht zurück und alles deutet darauf hin, dass sie über eine Wurzel gestolpert und im Slip ertrunken ist. Jules gibt sich die Schuld daran und sie und ihr Vater sind am Boden zerstört.
Zeitgleich wird das Fuchsmädchen Senna geboren. Die Fuchsmutter spürt direkt, dass ihre Tochter besonders ist – ein so genannter Wisserer. Senna fühlt sich gleich mit Jules Schicksal verbunden und die Wege der beiden müssen sich einfach kreuzen.
„Renn, Senna, renn“ ist ein wunderschönes Buch über Familie, Freundschaft, Verlust und Trauer, das direkt in seinen Bann zieht und nicht wieder loslässt. Die Kapitel sind abwechselnd aus der Sicht von Jules und Senna dargestellt. Auch die Nebenfiguren und deren Einzelschicksale stechen hervor und bleiben im Gedächtnis.
Das Buch ist im Verlag Beltz & Gelberg erschienen und sowohl für Kinder und Jugendliche, als auch für Erwachsene geeignet.
Empfohlen ab 12 Jahren.
Das Buch im Katalog der Bibliothek im zib...