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Widerstand im letzten Moment: Der tragische Tod des Ernst Gräwe

Broschüre und Veranstaltung zum Tod eines Soldaten aus Königsborn

Ernst Gräwe, ca. 1940. Die Kragenpatten mit einer Flügelschwinge weisen ihn als Unteroffizier aus. (Foto: Privatarchiv Jens Junkersdorf)

Von links nach rechts: Ludger Kloer (Schulleiter Werner-von-Siemens-Gesamtschule), Jérémy Gaudais (Autor der Broschüre „Widerstand im letzten Moment“), Historiker Dieter Knippschild, Stadtarchivar Dr. Frank Ahland, Ernst Gräwes Stiefenkel Jens Junkersdorf mit seiner Tochter und seiner Mutter, Bürgermeister Dirk Wigant und Jonas Jokiel (Schülersprecher Werner-von-Siemens-Gesamtschule) bei der Veranstaltung zur Vorstellung der Broschüre zur Erinnerung an den Soldaten Ernst Gräwe am Mittwoch, 9. Oktober 2024, im Bürgerforum Königsborn. (Foto: Kevin Kohues/Kreisstadt Unna)

In einer bewegenden Veranstaltung wurde am Mittwoch, 9. Oktober, im Bürgerforum Königsborn eine Broschüre zur Erinnerung an Ernst Gräwe vorgestellt. Die Geschichte des Sanitätssoldaten aus Königsborn ist eine ganz besondere. Er wurde getötet, weil er andere Menschen retten wollte. Am 10. April 1945 wurde Gräwe im niederländischen Deventer von seinem Vorgesetzten erschossen, nachdem er sich geweigert hatte, jugendliche niederländische Widerstandskämpfer zu erschießen. Besondere Tragik erfuhr der Tod des 30-jährigen Familienvaters durch den Umstand, dass die Stadt Deventer keine Stunde später durch kanadische Truppen befreit wurde.

Vielleicht sei es bezeichnend für die lange fehlende Wahrnehmung der Geschichte von Ernst Gräwe, dass die Anregung dazu aus dem Ausland kam, sagte Bürgermeister Dirk Wigant in seiner Rede bei der gut besuchten Veranstaltung, an der auch zahlreiche Schülerinnen und Schüler der Werner-von-Siemens-Gesamtschule teilnahmen. John Egbers, ein ehemaliger Offizier der niederländischen Luftwaffe mit engen familiären Beziehungen nach Deventer und Ingenieur mit Wohnsitz in Delaware (USA), wandte sich 2019 an die Kreisstadt Unna. Er mahnte, der Mut und die hohen moralischen Wertmaßstäbe Gräwes sollten in Unna nicht vergessen werden.  „Für das zu sterben, was man für moralisch und richtig hält“, schrieb Egbers, „ohne irgendjemandem zu nützen oder auf Anerkennung durch Freund oder Feind zu hoffen, ist die höchste Form des Heldentums.“

Darum bat er, die Bürgerinnen und Bürger Unnas über Ernst Gräwe zu informieren und mit ihm einen der größten Söhne der Stadt zu ehren. Schließlich seien, so Egbers weiter, die meisten Erinnerungen an diese Zeit negativ und schmerzhaft, Ernst Gräwe dagegen könne erinnert werden als ein leuchtendes Licht in einer Zeit der Verzweiflung und der Dunkelheit.

Als die Geschichte Gräwes im Archiv der Kreisstadt Unna bekannt wurde, absolvierte dort mit Jérémy Gaudais aus Tours gerade ein junger französischer Geschichtswissenschaftler zwischen Studienabschluss und Beginn seiner Dissertation ein Praktikum. Gaudais nahm den Faden auf und verfasste eine Broschüre über das Leben und Sterben Ernst Gräwes. Er recherchierte dafür akribisch in deutschen und niederländischen Archiven, las die verfügbare Literatur und formte aus all dem ein gut lesbares biografisches Porträt.

Der Autor war bei der Vorstellung der Broschüre ebenso anwesend wie einige Familienangehörige Ernst Gräwes. Jens Junkersdorf berichtete davon, wie er selbst auf seinen Stiefgroßvater, den ersten Mann seiner Großmutter, aufmerksam geworden war. Im Jahr 2008 besuchte er als Bundeswehrsoldat den Soldatenfriedhof Ysselsteyn in den Niederlanden – und stand plötzlich völlig unerwartet am Grab von Ernst Gräwe. Sichtlich berührt bedankte er sich nun bei der Kreisstadt Unna „für die posthume Ehrung von Ernst Gräwe, dem geliebten Ehemann meiner Großmutter“.

Weitere Redebeiträge kamen von Historiker Dieter Knippschild und von Jonas Jokiel, Schülersprecher der Werner-von-Siemens-Gesamtschule. Jokiel zitierte die letzten Worte Gräwes, mit denen dieser sich dem Tötungsbefehl seines Vorgesetzten widersetzt hatte. Laut einem Zeitzeugen sagte er: „Ich bin nicht hier, um Menschen zu erschießen, ich bin hierhergekommen, um Menschen zu heilen, ja um Menschen genesen zu lassen.“ Daraufhin packte der Offizier ihn am Arm, zerrte ihn hinter eine Mauer und schoss ihm in den Kopf.

Jokiel schlug rhetorisch geschickt einen Bogen aus der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur ins Hier und Jetzt. Er wünsche sich auch heute Widerstand, „wenn unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung ausgehöhlt werden soll“, sagte Jokiel. Einen würdigen Abschluss fand die Veranstaltung mit der Ballade „Imagine“ von John Lennon, gefühlvoll vorgetragen von Sabina Rudzinska (Gesang) und Gorgin Jamil (Gitarre).

 

Die Broschüre „Widerstand im letzten Moment – Der Soldat Ernst Gräwe (1914 bis 1945)“ ist im Stadtarchiv sowie im i-Punkt im zib gegen eine Spende von 3 Euro zugunsten der Aktion „Stolpersteine“ erhältlich.

Online steht sie hier zum Download zur Verfügung.